Teil 4: Ein Engel unter Menschen

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Minseok hatte es nicht vergessen, wie könnte er, aber es war an den Rande seines Gedächtnis gerutscht. Zu viel war an jenem Tag geschehen, zu viel Unglaubliches und wenn Minseok die festen Beweise – zwei tote Menschen ohne Leichen – nicht selbst gesehen hätte, er hätte diese ganze Nacht wahrscheinlich als ein Hirngespinst abgestempelt.

Doch die Waisenhausleiterin und der schreckliche Hausmeister waren tatsächlich niemals wieder gesehen worden und ein neuer Waisenhausleiter, ein guter, junger Mann, wurde an ihre Stelle in das Haus geschickt, wo die Kinder von nun an behütet aufwuchsen.

Das alles war bereits über zwölf Jahre her und doch spürte er noch heute, wie ihm der Atem der Angst manchmal noch den Nacken hinunterblies.

Es war an einem heißen Tag im Sommer als Minseoks Vergangenheit wie ein Steingeröll über ihm zusammenschlug.

Er hatte sich mit Rahil in einem kleinen Haus am Rande der Stadt niedergelassen. Nach ihrer Heirat hatten sie das Freudenhaus unter Tränen der anderen Frauen verlassen und sich hier niedergelassen. Minseok hatte Arbeit in einem Kutschenhandwerk gefunden und reparierte Räder und schnitt Holz für Kutschen. Es war eine beständige Arbeit und Minseok verdiente gut genug um ein Haus und ein paar Tiere auf dem Hof halten zu können. Er war glücklich und er wusste das Rahil und ihre zwei Mädchen glücklich waren und das war alles was zählte.

Es war ein heißer Sommertag als ihr Glück sich wendete.

Minseok war eben erst von der Arbeit gekommen und hatte noch keine Gelegenheit gehabt seine Zwei Töchter zur Begrüßung einen Kuss zu geben, als es laut gegen die Tür klopfte.

Rahil sah ihn verwundert an, bevor Minseok Achselzuckend zur Tür ging. Ein Junge mit goldenen Haaren, großen dunklen Augen und glänzender Haut stand auf dem Treppenabsatz und blickte ihn mit großen, erschrockenen Augen an.

„Hallo", sagte Minseok nach einem Moment. „Kann ich dir helfen?"

Der Junge öffnete mehrfach den Mund ohne dass ein Ton über seine Lippen kam. „Ich-"

„Wer ist da?", fragte Rahil in diesem Moment und lugte an Minseok vorbei zu dem Jungen. Ihr langes schwarzes Haar fiel ihr dabei über die Schulter. Der Junge starrte nun sie an. „Meine Güte, du siehst bezaubernd aus", lächelte sie. „Willst du hineinkommen?"

„Rahil-"

„Sehr gerne", sagte der Junge schnell. Rahil warf Minseok ein triumphierendes Grinsen zu und zwinkerte, bevor sie ihren Ehemann vom Türrahmen schob. Der Junge trat langsam über die Türschwelle.

„Wie heißt du?", fragte Minseok sobald die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war.

„Luhan", antwortete er leise und sah sich in dem kleinen Haus um. Er sah die Bilder von Blumen und glücklichen Familien, die offensichtlich Kinder gemalt hatten und den Kamin auf dessen Sims Vasen und kleine Holzschnitzfiguren standen. Außerdem die fröhlich, gelben Gardinen vor dem Fenster und das bestickte Tischtuch auf dem Esstisch. Wohn- und Esszimmer, wie Küche alles befand sich in diesem einen großen Raum.

„Bist du in Ordnung Luhan?", fragte Minseok und klang tatsächlich besorgt. „Brauchst du Hilfe?"

Luhan schüttelte schnell den Kopf. „Ich wollte mit dir reden", sagte er an Minseok gewandt, der vor Überraschung eine Augenbraue hob, weil der Junge alle Höflichkeitsformen außer Acht ließ. Letztlich kümmerte es ihn jedoch ohnehin nicht.

„Worüber?"

Luhan war für einen Moment still und sagte dann: „Ich war damals da, in dem Waisenhaus."

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