Die nächsten zwei Stunden langweiliger Vorträge über die Entstehung 'of the English Empire' verwende ich darauf, über unsere Situation nachzudenken. Mein Blick schweift aus dem Fenster und bleibt in der Ferne hängen, wo vereinzelt dunkle Baumkronen zwischen den Hochhäusern zu sehen sind.
Ich fühle mich befreit und verängstigt zur selben Zeit, ich meine, wir haben einen großen Schritt gewagt und sind jetzt komplett den Reaktionen der anderen überlassen. Wir wussten schon vorher, dass wir nicht nur Rückenwind haben würden und aus eigener Erfahrung, dass es auch schiefgehen könnte. Trotzdem träumen wir seit Monaten von diesem Moment, in dem endlich alles was wir zurückgehalten haben geklärt ist. Es wirkt surreal auf mich, das ich mich nun mitten in diesem Traum wiederfinde. Stets wirkte er so weit entfernt und selbst nach dem Coming out bei unseren Eltern war er zu weit entfernt, um sich den Tag auszumalen, an dem wir es wirklich wagen.
Selbst jetzt kann ich es nicht ganz glauben, in der einen Sekunde befinde ich mich in einem völligen Hoch, bin erleichtert und bis zum Rand gefüllt mit Vertrauen in uns, doch im nächsten Moment werde ich von den Blicken der Mitschüler, dem Gefühl noch nicht am Ziel zu sein, wieder schlagartig geerdet. Es ist noch immer schwierig, aber ich bin mir sicher zusammen finden wir den besten Weg damit umzugehen.Auch jetzt bin ich eher zurückhaltend, als ich mich wieder auf den Klassenraum konzentriere. Bereits nach einigen Minuten bin ich mir absolut sicher, dass unsere Mitschüler uns beobachten - teils neugierig und verdeckt, doch ein Großteil starrt uns auch geradezu unverhohlen an und mir wird unwohl zumute. Ich rede mir ein, dass auch ich an ihrer Stelle neugierig wäre, aber nichtsdestotrotz versuche ich den Blickkontakt zu vermeiden und schaue stattdessen rüber zu Ash, die mir einen Zettel über den Tisch zuschiebt - auch sie hat die Blicke bemerkt. Die Reaktion war natürlich absehbar, aber es gefällt mir nicht im Mittelpunkt zu stehen. Das hat es noch nie.
Nach der Stunde will ich nichts wie weg, doch kurz bevor wir aus der Tür gehen, bittet Herr Frese Ash und mich darum, noch auf ein Wort mit ihm zu bleiben. Sofort spüre ich die Blicke der anderen wieder auf mir, doch keiner bleibt unter seinen strengen Blick stehen und selbst Jojo und Jule werden von ihm weg gescheucht, wenn auch unter Protest. Sie sind die letzten, die den Raum verlassen und ich kann sehen, dass sie nur widerwillig die Tür hinter sich schließen. Vorher murmeln sie noch schnell etwas von der Mensa und nicken uns aufmunternd zu.
Ash und ich haben zuhause schon öfter darüber gesprochen, dass es zu so einem Gespräch kommen könnte. Wir waren uns erst nicht einig, ob wir es abstreiten sollten. Aber aus welchem Grund? Auch die Lehrer werden es spätestens in ein paar Tagen wissen, vorallem wenn es jetzt schon bis zu Herrn Frese durchgedrungen ist.
Natürlich ist es immer unangenehm, mit seinen Lehrern über privates zu reden, vorallem wenn man nicht weiß, wie sie dazu stehen. Doch auch das gehört dazu, wenn wir diesen Schritt machen wollen. In unserem Leben werden wir immer wieder Leuten begegnen, die uns damit konfrontieren und uns immer wieder in solchen Situationen wiederfinden. So unangenehm sie auch sein mögen.
Etwas nervös knete ich meine Finger und versuche ruhig zu bleiben und aufmerksam auszusehen, obwohl meine Gedanken rasen. Eigentlich gibt es keinen Grund, um Angst zu haben und doch zittern meine Hände vor Nervosität. Eine Begleiterscheinungen, welche das Thema jedes mal mit sich bringt und die ich mir noch nicht abgewöhnen konnte.
"Was gibt es denn?" fragt Ash vorsichtig und stellt sich direkt neben mich, sodass ihr Arm meinen berührt. Herrn Frese scheint zu überlegen, wie er das Gespräch am besten beginnen soll. Ich versuche vergeblich an seinem Gesicht abzulesen, was er gerade denkt.
"Nun ja, es gibt da einige Gerüchte die umgehen, sowohl unter Schülern, als auch unter den Lehrern wie ich höre..." beginnt er etwas zurückhaltend und beobachtet unsere Reaktion. Ich erwidere den Blick möglichst entspannt und übergehe dabei bewusst, dass er eine Antwort erwartet. Auf seine Wortwahl bedacht fährt er also fort: "...ich, nun ja.. ich wollte nur sicherstellen, dass ihr darüber Bescheid wisst." Wieder gibt er uns Zeit um darauf einzugehen und ich widerstehe dem Drang zu grinsen. Ich weiß nicht warum ich die Situation komisch finde, doch ich kann kaum verhindern, dass meine Mundwinkel leicht nach oben zucken. Vielleichtbweil das Gespräch Herrn Frese ungewöhnlich nervös erscheinen lässt und er dementsprechend um das Thema herumredet. Vielleicht auch, weil Ash sich demonstrativ so dicht an mich lehnt, das sie hinter meinem Rücken meine Hand berührt.
Ich starre auf den Boden und versuche angestrengt ein neutrales Gesicht zu behalten. Ein paar Sekunden verstreichen, bis ich mir ein Herz fasse und die Stille durchbreche, indem ich freundlich nachhake: "Und das Gerücht wäre?" Dabei schiebe ich Ashs Hand etwas zur Seite, um mich besser konzentrieren zu können. Mit einiger Überwindung zwinge ich mich dazu wieder aufzublicken und seinem Blick zu begegnen, der jetzt nicht mehr ganz so unleserlich ist, wie zuvor. Auch er ist neugierig, scheint jedoch zu hoffen, dass sich das ganze als Gerüchte herausstellt. Mir scheint es so, als würde er sich das Gespräch genauso gerne sparen wie wir.
"Wisst ihr, das ganze hat heute schon heftige Diskussionen im Lehrerzimmer ausgelöst und viele halten es für wahr. Also frage ich mich..."
Sofort spielt sich in meinem Kopf eine Szene ab, die mich nun doch grinsen lässt. Ich stelle mir Frau Zielbke vor, unsere gesprächige und stets für Klatsch und Tratsch offene Erdkundelehrerin, wie sie aufgeregt in das Lehrerzimmer stürmt und die Schar von müden, Kaffee- schlürfenden Leuten aufmischt. Keiner von ihnen schenkt dem ganzen so richtig Aufmerksamkeit, sie erzählt ja ständig ähnlich schockierende und meist doch falsche Gerüchte. In der nächsten Pause kommt dann aber unsere Deutschlehrerin dazu, die sich sicher bei einigen Schülern umgehört hat, nachdem sie uns heute morgen die ersten beiden Stunden hatte. Sie ist ja immer sehr besorgt, zumindest betont sie das sehr oft. Ich meinerseits glaube ja eher, dass ihre Besorgnis ihrem Ruf als Vertrauenslehrerin gilt, als tatsächlich ihren Schülern. Aber wer weiß das schon. Langsam beginnen also die ersten, es zu glauben und beauftragen den guten Herrn Frese damit, sich unserer anzunehmen. Das kann er wiederum nicht ablehnen. Und da stünden wir also - der überforderte Englischlehrer, der nicht die richtigen Worte findet und die zwei angeblich lesbischen Schülerinnen, schmunzelnd, Arm an Arm."Nun ja. Es wird gesagt, dass...," etwas verlegen räuspert er sich, "sie sollten sich das nicht zu Herzen nehmen, es ist wahrscheinlich eh nur ein dummes Gerücht."
Eine weitere unangenehme Pause entsteht und ich muss zugeben; das Gesprächsthema Nummer eins bei den Lehrern zu sein, ist ein komischer Gedanke. Als Herr Frese seufzt und sich angespannt hinter sein Pult setzt, ahnungslos, wie er das sensible Thema angehen soll, übernimmt Ash schließlich das Wort: "Das wir ein Paar sind?"
Erleichtert nickt er und wedelt etwas übertrieben mit der Hand herum, um das ganze zu überspielen: "Ihr habt es also auch gehört?"
"Es ist die Wahrheit." antwortet sie amüsiert und ich finde das Gespräch könnte somit enden, denn jetzt bewegt es sich zusehends in die Richtung, welche ich eigentlich vermeiden wollte. Keiner möchte seine Sexualität vor Lehrern rechtfertigen oder gar erklären müssen. Zu meinem Glück scheint Herr Frese ebenfalls nicht so weit gehen zu wollen und stottert bloß leicht errötet: "oh."Ich muss zugeben, dass er mir etwas leid tut. "Dann ist meine kleine Rede ja hinfällig." scherzt er peinlich berührt und keiner von uns weiß so recht weiter, also verabschieden wir uns und verlassen zügig den Raum.
Vor der Tür werfe ich Ash einen langen Blick zu, bevor wir beide erleichtert anfangen zu kichern.
"Das war ..unangenehm" stelle ich fest und folge ihr eine Treppe hoch.
"Aber stell dir nur mal vor was diese Pause im Lehrerzimmer los sein wird!" lacht sie und die Anspannung fällt langsam von uns ab, als wir das Gelächter nicht länger zurückhalten können.
"Ich finde wir machen das gut" sagt sie auf einmal völlig ernst und wirft mir einen strahlenden Blick zu. "Klar, es läuft nicht alles nach Plan, aber das tut es doch nie. Ich bin stolz auf uns." Nickend nehme ich ihre Hand und wir bleiben einen Moment in dem leeren Gang stehen. "Ich auch."
Ein paar Sekunden lang ist das einzige was ich wahrnehme ihr glücklicher Blick der meinem begegnet und lächelnd streiche ich eine Strähne hinter ihr Ohr. "Als wir uns kennengelernt haben, hättest du dir damals vorstellen können, dass es so weit kommt?"
"Nein. Damals konnte ich mir nicht einmal vorstellen, heimlich eine Beziehung aufrecht zu erhalten. Dazu noch mit einem Mädchen" lache ich, meine es aber absolut ernst.
"Wir haben uns so sehr verändert."Zustimmend nickt sie und gibt mir einen Kuss, wenn auch nur flüchtig.
"Aber nur zum Guten."Als sich kurz vor Pausenende Schritte nähern, lässt sie meine Hand reflexartig los, bevor sie sie wieder zurück in ihre nimmt. Schmunzelnd murmelt sie: "Es wird wohl noch etwas länger dauern, sich daran zu gewöhnen."
Als unsere Mitschüler um die Ecke biegen, wende ich ihnen den Kopf zu. Es sind drei Mädchen aus unserem Jahrgang, die ich nur flüchtig kenne. Doch im Vorbeigehen, da begegnen sie uns mit einem warmen Lächeln.
"Gesehen?" frage ich aufgeregt, als sie außer Sicht sind und Ash nickt grinsend. Innerlich spüre ich einen Schub von Selbstbewusstsein und kann kaum aufhören zu strahlen, als wir uns zusammen auf den Weg zu Mathe machen, um danach Jojo und Jule in der Mensa zu treffen.
"Wow, komm mal runter. Dein Strahlen blendet mich." lacht sie und knufft mir gegen die Schulter. Doch auch ihre Stimme ist ein Stückchen heller und lächelnd betreten wir den Klassenraum.
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Forbidden Love || GirlxGirl
Teen Fiction[abgeschlossen] Lia und Ash verstecken ihre Beziehung seit Monaten, doch ihnen ist klar früher oder später wird es ans Licht kommen. So entscheiden sie sich den nächsten Schritt zu wagen und es Ash's stark religiösen Eltern und ihren gemeinsamen Fr...