Januar 2006 – Kosovo/Pejë
Es ist dunkel und kalt. Das Weinen der Neuen ist das Einzige, das die Stille durchbricht. Sie hat das freie Bett neben mir bekommen und fleht immer wieder nach ihrer Mutter. Sie ist noch klein, erst vier Jahre alt. Es wird eine Weile dauern, bis sie sich daran gewöhnt. Wochen, Monate, vielleicht sogar Jahre. Oder sie gewöhnt sich gar nicht daran.
Manchmal sehe ich es als eine Art Segen an, dass ich nicht aus meinem Leben gerissen wurde. Damit meine ich, dass ich schon immer hier gewesen bin. Seit ich denken kann. Ich kenne meine Eltern nicht, ich weiß nicht, wie sie aussehen, ob sie überhaupt noch leben. Ein Vorteil, dass ich nichts habe, an das ich mich erinnern kann. Sonst würden mir diese Erinnerungen den Schlaf rauben. Oder ich würde, wie das kleine Mädchen neben mir, weinend nach meiner Mama flehen.
Vorsichtig schlage ich die Decke zurück und setze mich auf. Ich schleiche zum Fenster und ziehe den Vorhang zurück. Es hat endlich geschneit! Der ganze Garten ist schneebedeckt. Die dunkle Nacht wird durch den blendenden Schnee erhellt, und der Mond, der hoch am Nachthimmel steht, strahlt ins Zimmer. Dieser Anblick ist so schön, dass ich fast einen erstaunten Laut von mir gebe. Gerade noch rechtzeitig schaffe ich es mich zurückzuhalten – bloß keinen Lärm machen.
Die Erzieher schlafen wahrscheinlich schon, aber ich will kein Risiko eingehen, sonst darf ich morgen wieder eine extra Stunde Mais vom Kolben trennen. Obwohl ... morgen ist der große Tag. Morgen wird ein Ehepaar kommen und sich eins der Kinder aussuchen. Vielleicht wird das Grund genug sein, um für einen Tag der Arbeit zu entkommen. Meinen Händen würde es jedenfalls gut tun. Sie sind ganz rissig von der Kälte und sie schmerzen.
„Was machst du da?", flüstert plötzlich jemand.
Ich zucke zusammen, mein Körper verkrampft sich. Als ich mich umdrehe, stelle ich erleichtert fest, dass es nur die Neue ist. Ich lege einen Finger an den Mund und gehe auf Zehenspitzen auf sie zu.
„Wie heißt du?", frage ich leise.
„N ... Nora", stammelt sie.
„Ich bin Lirona. Und ich werde auf dich aufpassen."
Sie schnieft und es sieht so aus, als würde sie gleich wieder in Tränen ausbrechen. Ich wische ihr über das Gesicht, nehme ihre Hand und drücke sie fest.
„Versprochen", füge ich hinzu.
Ich weiß nicht genau, ob sie versteht was ich sage, aber sie erwidert meinen Händedruck und schenkt mir ein tapferes Lächeln. Bevor ich mich ins Bett lege, streiche ich ihr noch einmal über das Haar und flüstere, dass alles gut werden wird.
Als ich am nächsten Tag mit den anderen draußen spiele, kommt mein bester Freund plötzlich angestürmt. Er ist völlig außer Atem und gibt unverständliche Worte von sich. Ich warte kurz und reibe ihm dann lachend eine Handvoll Schnee ins Gesicht.
„Lass das, Rona!", brüllt er mich an.
Ich zucke zusammen. Mein Lachen erstirbt. Irgendetwas stimmt hier nicht, er wird nämlich so gut wie nie laut. Vor allem nicht mit mir. Lindi wischt sich mit dem Ärmel über das Gesicht.
„Was ist denn los?", frage ich ihn.
Er schnieft. Und er zittert. So langsam aber sicher bekomme ich Angst. Ich ziehe ihn etwas weg von den anderen und wiederhole aufgeregt meine Frage. Endlich antwortet er.
„Dieses Ehepaar ist gerade gekommen."
„Und?", frage ich.
„Sie werden dich holen, Rona. Du wirst -"
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Zwei Seiten der Wahrheit
General FictionLironas Leben könnte besser nicht sein: Sie ist 20, hat wundervolle Adoptiveltern und eine scheinbar sichere Zukunft vor sich. Bis sie etwas erfährt, das sie eigentlich niemals hätte erfahren dürfen. Mit Hilfe eines alten Freundes macht sie sich auf...