Kapitel 19

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"Oh, Gott. Oh, mein Gott."

Das war alles, das mein Gehirn produzieren konnte, während Lindon durch die Straßen raste. Es herrschte nicht viel Verkehr, und es dauerte nicht lange, bis wir aus der Stadt fuhren. Ungläubig starrte ich in den Außenspiegel, vergewisserte mich, dass da auch wirklich ein Wagen hinter uns her war. Was hatten sie vor? Was hatte mein Vater ihnen befohlen? Dumme Frage ... wurde nicht erst vorher auf uns geschossen? Lindon sagte nichts. Er war vollkommen auf die Straße, beziehungsweise auf unsere Flucht konzentriert. Auf den ersten Blick erschien er mir unheimlich ruhig, doch dann fielen meine Augen aus seine Hände. Sie waren so fest ums Lenkrad gekrallt, dass seine Knochen weiß hervortraten.

„Lindon, was machen wir jetzt?", flüsterte ich.

Er gab keine Antwort. Vermutlich deshalb, weil er keine hatte. Aufgebracht rieb ich mir das Gesicht und presste meine Fingerspitzen anschließend gegen meine pochenden Schläfen. Hatte ich wirklich das Recht eine unschuldige Person in meine Angelegenheit reinzuziehen? Konnte ich wirklich riskieren, dass Lindon noch schwerer verletzt, oder sogar getötet werden konnte? All das, weil ich meine leibliche Mutter finden wollte? Das Ganze kam mir plötzlich egoistisch vor. Denk nach, Lirona, denk nach.

„Lindon", begann ich mit zitternder Stimme, „vielleicht sollte ich meinen Vater anrufen." Gott, ich erkannte meine eigene Stimme nicht wieder. Es kam mir vor, als würde eine Fremde sprechen. Trotzdem nahm ich tief Luft und fuhr fort. „Er muss wissen, dass ich es bin, die Ardijana besucht hat."

„Und dann?"

„Dann wird er seine Hunde zurückrufen."

„Und dann?"

Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Was meinst du?"

Für eine klitzekleine Sekunde nahm Lindon die Augen von der Straße, um mir einen kurzen Blick zuzuwerfen. Er schnaubte, bevor er sich wieder der Straße widmete. „Was willst du danach machen, Lirona?", begann er mit ruhiger Stimme. „Falls wir hier Heil herauskommen und wir wieder in Deutschland sind? Was willst du machen, wenn dein Vater weiß, dass du die Wahrheit kennst? Willst du ihn zur Rede stellen? Was erwartest du von ihm? Was, wenn er sogar weiß, dass wir hier sind?"

Sein „Falls wir hier Heil herauskommen" jagte mir einen Schauer über den Rücken, doch der letzte Satz fühlte sich an wie ein Schlag ins Gesicht. Ein K.O Schlag, der mir den Rest gab.

„Nein", flüsterte ich mit brüchiger Stimme. „Nein, das kann nicht sein."

„Lirona ... dein Verstand ist benebelt. Es geht hier um den Mann, der dich aus dem Heim geholt und dir eine Familie gegeben hat. Du kannst nicht klar denken, selbst wenn du es willst."

Lindon klang keineswegs anklagend oder vorwurfsvoll. Im Gegenteil, seine sanfte Stimme wusch wie eine tröstende Hand über mich. Ich wusste, dass er Recht hatte. Ich hatte von Ardijana aus erster Hand erfahren, wozu mein Vater in der Lage ist. Wie konnte ich da so naiv sein und glauben, er hätte sich geändert? Die Männer, die uns verfolgten, bewiesen nämlich das komplette Gegenteil. Ich konnte meinen Vater nicht anrufen. Ich konnte es nicht riskieren.

Minutenlang herrschte Stille. Lindon fuhr immer weiter und weiter, während das Auto uns noch immer dicht an den Fersen hing. Ich verlor so langsam aber sicher die Geduld ... und die Nerven. Wohin sollte das Ganze führen? Es war kein Ende in Sicht.

„Beruhige dich. Ich weiß, was ich mache", sagte Lindi auf einmal, so, als hätte er (Mal wieder) meine Gedanken gelesen. Blind griff er nach meiner Hand. Es klingt klischeehaft und kitschig, aber seine Berührung nahm mir augenblicklich einen Teil meiner Nervosität und Angst. Die emotionale und physische Verbindung zwischen uns Beiden wurde mit jedem Tag stärker. Erst als wir die Autobahn betraten, ließ er meine Hand los. Wieso, erfuhr ich nur Minuten später.

Zwei Seiten der WahrheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt