Kapitel 31

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Die junge Frau löst sich von seinem Griff. Doch statt zurückzutreten, greift sie nach seinen Händen und legte diese an ihren Hals. „Wollen wir wetten?", fordert sie ihn heraus. „Drück zu, na los."

Kurz ist es ruhig. Es ist, als ob die Zeit still steht. Für den Hauch einer Sekunde blitzt eine mörderische Lust in Adems Augen auf ... aber dieser ist innerhalb eines Wimpernschlags wieder verschwunden.

„Feigling", spottet Fatmire und drückt ihn angewidert von sich.

Er fängt an auf und ab zu laufen. Seine Hände finden ihren Weg immer wieder durch sein blondes Haar. Fatmire weiß, dass er gerade in Panik gerät und das ist genau das, was sie will. „Was zur Hölle willst du hier, Fatmire?", ignoriert Adem die Beleidigung.

Sie lächelt leicht und schüttelt den Kopf. „Keine Fatmire mehr."

Adem zieht verwirrt die Augenbrauen zusammen.

„Keine Fatmire mehr!", wiederholt sie etwas lauter. „Keine Lira mehr, Adem! Ich musste meinen Namen ändern, weil ich noch jahrelang von deinen Leuten gejagt wurde. Wie ein wildes Tier!"

Er dreht ihr den Rücken zu und starrt auf den Brunnen. Fatmire kann nur ahnen, was gerade in seinem Kopf vorgeht. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis er überhaupt wieder reagiert. Adem seufzt tief und massiert sich die Nasenwurzeln, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder bei Fatmire liegt.

„Was willst du, Fa –"

„Ich bevorzuge Mirjeta. Oder einfach nur Frau Mehmeti." Fatmire nähert sich dem Brunnen und lässt ihre Finger unter das Wasser gleiten. „So eine Ironie, oder?", fährt sie fort und lacht humorlos auf. „Wenn doch mein Leben nur so gut wäre, wie mein neuer Name es vorausprophezeit. Aber ja, wen wollen wir etwas vormachen? Mein alter Name hat mir auch nicht das versprochene Glück geschenkt. Namen und ihre Bedeutungen ..." Sie seufzt tief und zuckt mit den Schultern.

Ihr ist durchaus bewusst, dass sich dieses Gespräch unnötig in die Länge zieht. Aber es tut gut, Adem Morina so aufgewühlt zu sehen. Es fühlt sich gut an, endlich man die Stränge in der Hand zu halten.

„Es reicht!", zischt Adem schließlich. „Was willst du? Eine Entschuldigung? Ist es das, was du willst?" Er greift nach ihren Armen und sieht ihr tief in die Augen. „Es tut mir Leid, Lira. Es tut mir Leid, Fatmire. Es tut mir Leid, Mirjeta oder wie auch immer ich dich nennen soll."

Seine Augen schwimmen in Tränen und dringen tief in Fatmires Seele ein. Sie kennt diesen Blick nur allzu gut. Es ist der Blick, für den sie damals gefallen war, der sie alles hat glauben lassen, was von seinem Mund kam. Und auch heute, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, glaubt sie ihm. Sie schüttelt den Kopf und löst sich erneut von ihm.

„Deine Entschuldigung ist nichts wert. Sen hiq! (Überhaupt nichts!)"

„Was willst du?", fragt er erneut, diesmal fast schon verzweifelt.

„Zuerst einmal will ich einen Job für mich und meinen Sohn."

Schweigen. Man hört das Wasser im Brunnen rauschen. Die Grillen zirpen. Irgendwo bellt ein Hund. Und dann, nach gefühlt fünf Minuten – in Wahrheit allenfalls Sekunden – lacht Adem Morina auf. Seine Reaktion wirft Fatmire für einen Augenblick aus der Bahn.

„Du machst Witze", lacht Adem noch immer und stoppt dann abrupt, als er sieht, dass Fatmire nicht einmal mit der Wimper zuckt. Stattdessen funkelt sie ihn an und verschränkt die Arme vor der Brust. „Bitte, sag mir, dass du Witze machst", fleht Adem kleinlaut.

Sie hebt die Augenbraue und starrt ihn an. „Mein Ehemann ist letztes Jahr gestorben."

„Schau, das tut mir Leid, aber –"

Zwei Seiten der WahrheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt