Kapitel 29

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LINDON

„Bitte, was ist denn passiert?" hörte ich Maida wie durch einen Schleier fragen.

Ich schüttelte den Kopf und fixierte Frau Morina.

Schluchzen, schluchzen und noch mehr schluchzen. Und dann nahm sie tief Luft ...

„Lira ... Lira ..."

Das war alles, das Frau Morina zwischen zittrigen Atemzügen immer wieder hervorbrachte. Mein ganzer Körper hatte sich angespannt. Ich biss die Zähne zusammen und widerstand dem Drang Frau Morina zu schütteln, bis sie endlich damit herausspuckte, was mit Lira war. Das übernahm dann jedoch Maida für mich. Sie packte Liras Mutter an den Oberarmen und zwang sie sie anzusehen.

„Was ist mit Lira? Was ist passiert?" wiederholte Maida so ruhig wie möglich.

„Er hat sie. Er hat sie."

„Wer hat sie?" fragte Maida und ich wie aus einem Mund.

Ich war mittlerweile ins Zimmer getreten. Mein Atem ging schnell und meine Hände waren zu Fäusten geballt. Ich spürte Adems Augen auf mir und als sich unsere Blicke trafen, zog er verwirrt die Augenbrauen zusammen?

„Was machst du hier? Hattest du nicht gekündigt?"

Kaum hatte er zu Ende gesprochen, sprang Frau Morina auf und schrie los. „Deine Tochter wurde entführt und fragst dich, was er hier macht? Was stimmt nicht mit dir, Adem?" Sie trat auf ihren Ehemann zu und schlug auf seine Brust ein. „Cka ki bo? Fol, cka ki bo? Pse e murren Liren, Adem? Pse? (Was hast du getan? Sag, was hast du getan? Wieso haben sie Lira genommen, Adem? Wieso?)"

„Nuk e di ... (Ich weiß es nicht ...)", antwortete dieser kleinlaut.

Eine schallende Ohrfeige folgte und ich glaube, ich war nicht der Einzige, der geschockt die Augen aufriss. Irgendwas sagte mir, dass Adem, der sich gerade ebenso geschockt die Wange hielt, zurückschlagen würde. Instinktiv trat ich noch weiter ins Zimmer, bereit einzuschreiten.

„Lüg mich nicht an!", kreischte Liras Mutter. „Einmal, Adem, einmal verlange ich von dir, mich nicht anzulügen! Ein einziges Mal will ich, dass du die Wahrheit sagst und keine Märchen erzählst!"

Als Adem auf einmal den Arm ausstreckte, um nach seiner Frau zu greifen, trat ich dazwischen. Ich konnte einfach nicht anders. Mutter, die noch immer an der Tür stand, zischte meinen Namen, doch ich ignorierte sie. Dass ich mich einmischte, schien Adem gar nicht zu passen.

„Was willst du eigentlich, du Bengel?", schrie er mich an. „Denkst du etwa, ich schlage eine Frau?"

„Wäre nicht das erste Mal", gab ich zurück. Das war übrigens die falsche Antwort.

Schweigen. Wo vor wenigen Sekunden noch das blanke Chaos geherrscht hatte, war jetzt alles erschreckend ruhig. Alles, das man hörte, war das Ticken der Wanduhr und das Pfeifen des Windes vom Sturm, der draußen sein Unwesen trieb.

„Was hast du gerade gesagt?", fragte Adem schließlich gefährlich leise und trat langsam auf mich zu. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich nicht wenigstens ein bisschen Angst verspürte. Dieser Mann war immerhin ein abgebrühter Mafia Boss und Mörder. Und womöglich auch mein Vater. Was er außerdem gar nicht wusste.

„Das würde ich auch gerne wissen", sagte Frau Morina.

„Halt dich da raus!", brüllte ihr Ehemann.

„Lindon!" zischte meine Mutter zur selben Zeit und griff nach meinem Oberarm. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass sie ins Zimmer getreten war. „Du kommst jetzt mit", forderte sie mich auf und zog mich mit sich. „Das ist eine Familienangelegenheit, nicht unsere Sache."

Zwei Seiten der WahrheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt