Kapitel 27

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Bum-bum, Bum-bum, Bum-bum.

Mein Herzschlag war gerade das Einzige, das ich wahrnahm. Das irgendwie Sinn machte. Ich könnte das rapide Hämmern in meinen Ohren hören, konnte fühlen, wie das Organ gegen meine Brust schlug. Das, was ich soeben gesehen hatte war so schon schlimm genug, aber Vetims Vorwürfe gegenüber meinen Vater – die ich übrigens ohne auch nur eine Sekunde zu zögern glaubte – setzten dem Ganzen noch eins drauf. Es war wie die Kirsche auf der Sahne. Nur im negativen Sinne.

Meine Augen hafteten auf das Video. Vetim hatte es gestoppt. War es Ironie, dass der Mund der Frau in einem Schrei geöffnet war? War es Ironie, dass ich mir auch die Lunge aus dem Hals brüllen wollte? Dass ich schreien und schreien und schreien wollte, bis ich erschöpft zusammenbreche und meine Stimme weg ist? Nach einer gefühlten Ewigkeit hob ich meinen Kopf. Vetim hatte mich die ganze Zeit über beobachtet. Seine Augenbrauen waren nachdenklich zusammengezogen. Misstrauen stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Dann packte er mich so plötzlich am Hals, dass ich fast aus dem Stuhl fiel. Es war, als ob ihm ganz plötzlich ein Licht aufgegangen war. Als ob er alles durchschaute. Seine Augen funkelten gefährlich, während seine Finger sich fester um meinen Hals schlossen. „Du weißt davon", sagte er leise.

„Nein!", brachte ich irgendwie heraus, obwohl ich Schwierigkeiten hatte zu atmen. Für den Bruchteil einer Sekunde fragte ich mich, ob ich das eigentlich noch wollte. Atmen.

„Lüg mich nicht an", zischte Vetim mir ins Gesicht. Er ließ von mir und warf den Tisch um. Der Aufschlag hallte in der fast leeren Scheune nach. „Du weißt davon!" schrie er.

„Ich hab erst vor ein paar Tagen davon erfahren!", schrie ich zurück. „Ich war im Kosovo und ... und hab dort ein paar Dinge herausgefunden. Unter anderem, dass Adem Morina mein lieblicher Vater ist. Oder dass mein Opa der Kopf der größten Mafiabande war."

„Dessen Platz dein Vater eingenommen hat!"

Diesmal stand ich so plötzlich auf, dass der Stuhl hinter mir zu Boden krachte. Ich war angekettet, als ob ich die Verbrecherin wäre und das kotzte mich verdammt nochmal an. „Meinst ich hab nen Freudentanz hingelegt, als ich das erfahren habe?" kreischte ich. „Meinst du mir gefällt es zu wissen, dass mein Vater ein Mörder ist, dass ich meiner Mutter wenige Minuten nach der Geburt weggenommen wurde und dass ich einen Zwillingsbruder habe, der, wie sich herausstellte, Lindon ist?" Ich japste nach Luft nach meinem kleinen Ausbruch. Mir fiel zu spät auf, dass ich zu viel gesagt hatte.

„Lindon ist dein Bruder?" fragte Vetim. Es schein eine rhetorische Frage zu sein, denn er wartete erst keine Antwort ab, sondern brach in schallendes Gelächter aus. „Habt ihr schon Inzest betrieben?"

Ich schloss die Augen und atmete mehrmals tief ein und aus. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um mich provozieren zu lassen. Obwohl ich innerlich kochte und vor Wut mein Magen zu brennen begann, biss ich die Zähne zusammen und ließ Vetim Gelächter über mich ergehen. Auch die Tränen, die mir in die Augen stiegen blinzelte ich zurück.

„Es tut mir leid was mit deinen Eltern passiert ist, Vetim. Ich weiß aber nicht, was es dir bringt, mich hier festzuhalten. Ich habe absolut nichts mit den Geschäften meines Vaters zu tun."

Es dauerte nur wenige Sekunden bis Vetim wieder nüchtern wurde. Anstelle seines Lachens verzog er verächtlich seine Lippe hoch. „Welche Geschäfte meinst du? Die Geldwäscherei? Die Erpressungen? Die Korruption? Oder doch eher die Morde?" Er trat langsam auf mich zu. Meine Beine bewegten sich automatisch rückwärts, bis ich mit dem Rücken gegen der Wand stand. „Adem Morina hat meinen Vater auf offener Straße erschießen lassen, weil er eine Gefahr für seine dreckigen Geschäfte war. Auf offener Straße, Lira. Vor den Augen seiner Frau. Vor den Augen seines dreijährigen Sohnes!"

Zwei Seiten der WahrheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt