Kapitel 34

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Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite und wog meine Worte ab. „Ich bin kein Vergewaltiger. Ich bin kein schlechter Mensch", wiederholte er, als würde er gerade versuchen sich selbst davon zu überzeugen.

„Nein, das bist du nicht", bestätigte ich erneut. „Und jetzt lass uns bitte losfahren."

Vetim nahm tief Luft und nickte, bevor er schließlich den Wagen anließ. „Wohin?", fragte er leise.

„Ins Krankenhaus. Ich muss meinen Vater sehen."

Mir war gar nicht bewusst gewesen, wie weit weg wir aus der Stadt waren. Es dauerte über 20 Minuten, bis wir die Felder und Wiesen und dreckigen Wege hinter uns ließen und es wieder halbwegs nach dem 21. Jahrhundert aussah. Erst dann fiel mir auch auf, dass ich in meinem Zustand unmöglich ins Krankenhaus konnte. Ich war schmutzig. Überall. Wirklich überall. Mein Körper. Meine Klamotten. Meine Schuhe. Selbst in meinem Gesicht spürte ich getrocknete Erde. Mein Haar war fettig und immer noch etwas feucht von meiner unangenehmen Begegnung mit dem Bottich. Ich wagte es zwar nicht die Sonnenblende aufzuklappen und in den kleinen Spiegel zu schauen, aber das war gar nicht nötig. Ich wusste, dass die Leute denken würden, ich sei der Psychiatrie entflohen. Oder eben meinem Entführer.

„Planänderung", sagte ich. „Fahr mich zu Maida, ich kann so nicht ins Krankenhaus."

Als Vetim nicht antwortete, sah ich zur Seite und studierte sein Profil. Er biss sich nervös in die Unterlippe. Seine Hände waren ans Lenkrad geklammert, sein ganzer Körper schien verspannt. Ich sah, wie sich sein Adamsapfel bewegte, als er schwer schluckte.

„Vetim?"

„Okay ... okay ... aber ... willst du nicht ... ich meine, Beweise? Willst du nicht erst zur Polizei?"

Ich dachte einen Augenblick darüber nach. Wollte ich das? Wollte ich zur Polizei und ihnen von den zwei schlimmsten Tagen meines Lebens berichten? Wollte ich alles, das passiert war, detailliert wiederholen? Wieder. Und wieder. Und wieder. In einem Interviewraum. Vor Gericht. Vor etlichen Menschen. Wollte ich ihnen sagen, wie ich mich gefühlt hatte? Erniedrigt. Verängstigt. Beschämt.

„Lira?"

„Nein."

Vetim warf einen kurzen Blick in meine Richtung, bevor er wieder nach vorne schaute.

„Später dann", sagte er leise.

„Nein."

Diesmal wurde ich ein wenig nach vorne geschleudert, als Vetim ganz plötzlich auf die Bremse trat. Er fuhr rechts ran, ließ den Motor jedoch laufen. „Nein? Was soll das heißen? Ich hab dich entführt. Zwei Tage lang warst du verschwunden, Lira! Ich hab dir wehgetan. Dan, er ... er hat dir noch mehr wehgetan. Und du willst mir sagen, du willst nicht zur Polizei?"

Ich zuckte mit den Schultern und schluckte schwer. „Du hast dich um diesen Mann gekümmert?"

Vetim nickte.

„Du hast es auch den anderen Männern erklärt?"

„Ja, die werden dir nichts tun, ich schwöre es."

Diesmal nickte ich.

„Aber, Lira –"

„Was bringt es? Außer noch mehr unnötigen Schmerz? Wie soll ich das erklären, Vetim? Wenn ich zur Polizei gehe, muss ich ihnen den Grund dieser Entführung nennen. Ich weiß, du willst Gerechtigkeit, aber mein Vater liegt im Sterben. Und ja, mir ist bewusst, dass er viel böses getan hat, und das er ein schlechter Mensch ist, aber ..." Meine Stimme brach, ich hatte angefangen zu weinen. Diese scheiß Situation zerrte an meine verdammten Nerven. Ich schniefte und versuchte mich zusammenzureißen. „Er mag ein schlechter Mensch sein, Vetim, aber ... aber er ist ein guter Vater ... er ist ein guter, toller, fast schon perfekter Vater. Und du ... es ist mir scheiß egal, was du getan hast, du hast mich gerettet. Du hast mich gerettet, Vetim."

Zwei Seiten der WahrheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt