Kapitel 5

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Herr Mehmetis Stimme holte mich wieder ins Hier und Jetzt. Ich schlug die Augen auf und setzte mich aufrecht hin. Während ich tiefe Atemzüge nahm, ebbte mein Herzrasen langsam aber sicher ab. Herr Mehmeti drehte sich um und nahm die Sonnenbrille ab.

„Wann soll ich sie abholen?"

Ich konnte nicht antworten. Dazu war ich im Augenblick nicht in der Lage. Denn statt eines Mannes mittleren Alters, für den ich ihn gehalten hatte, blickte ich in das Gesicht eines jungen Mannes, der nicht viel älter sein konnte, als ich es war ...

Verwirrt runzelte ich die Stirn. Ich wusste nicht wieso, aber ich war davon ausgegangen, dass mein neuer Fahrer ungefähr im gleichen Alter war, wie Herr Kraus. Und jetzt saß hier ein Zwanzigjähriger, noch dazu ein Landsmann.

„Alles okay mit Ihnen?", fragte er mich jetzt.

„Nein ... Ich meine, ja ..."

„Also?"

„Was also?"

„Wann soll ich Sie abholen?"

Ich könnte mir auf die Stirn klatschen! Wieso verhielt ich mich wie eine Idiotin?

„Um zwei", sagte ich und räusperte mich.

Er nickte nur. Plötzlich klingelte mein Handy. Ich erstarrte, als ich auf das Display sah – unterdrückt. Wie auf Knopfdruck raste auf einmal mein Herz los. Es war ein ständiges Auf und Ab, ein Psychiater würde meine aktuelle Gefühlslage wahrscheinlich als äußerst labil bezeichnen.

„Wollen Sie nicht ran gehen?"

Ich fuhr mit der Zunge über meine trockenen Lippen und schluckte schwer. Ich drückte den Anruf weg, schaltete das Handy auf lautlos. Erst dann hob ich meinen Kopf und begegnete den Blick des Fahrers, der mich mit ausdrucksloser Miene ansah.

„Nein", sagte ich schließlich.

„Okay, dann können Sie jetzt aussteigen."

Ich hob meine Augenbraue. Das war keine Frage gewesen, sondern eine Aufforderung. Ich wurde gerade allen Ernstes aus meinem eigenen Auto geworfen. Was dachte dieser Idiot eigentlich, wer er war? Merkte er etwa nicht, dass es mir gerade nicht gut ging? Vollidiot!

Aus purem Trotz ließ ich mir beim Aussteigen extra viel Zeit. Ich checkte mein Make-up und tat dann so, als würde ich eine Nachricht tippen. Vielleicht war mein Verhalten kindisch, aber als ich sah, dass er unbeeindruckt auf seine im Schoß liegenden Hände starrte, wurde ich noch wütender.

„Seien Sie pünktlich, Herr Mehmeti", zischte ich und stieg aus.

Gereizt knallte ich die Autotür zu und lief mit schnellen Schritten ins Gebäude.

Innerhalb der letzten zwei Tage hatte sich mein bis dato ruhiges Leben in ein wahres Desaster verwandelt. Zum krönenden Abschluss würde ich mich mit einem Fahrer abgeben müssen, der mir jetzt schon auf die Nerven ging. Vielleicht sollte ich Maidas Ratschlag annehmen und eine Therapie machen. Das Überwinden meiner Fahrangst schien im Moment der einzige Ausweg zu sein, um diesen langweiligen Typen wieder loszuwerden ...

Nach der Vorlesung, die unglaublich langatmig gewesen war, traf ich mich mit Maida zum Mittagessen in der Mensa. Ich erzählte ihr in knappen Worten von Vetims Ausbruch und dem anschließenden Anruf, der mich nach wie vor total durcheinander brachte.

„Ich glaube, du hast Recht. Das muss Vetim gewesen sein", sagte sie schließlich.

„Aber was, wenn ich mich irre? Was, wenn es nicht Vetim -"

Zwei Seiten der WahrheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt