Kapitel 10

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Meine Finger umklammerten das Holzstück so fest, dass ich befürchtete es würde kaputt gehen. Soeben hatte mein Herz noch ausgesetzt und nun hämmerte es wie wild in meiner Brust. Das braune Haar, das gerade leicht zerzaust war. Die schokoladenbraunen Augen, die nun von Tränen glänzten. Das strahlende Lächeln, das sein ganzes Gesicht einzunehmen schien. Mein Lindi. Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte wissen müssen von der Sekunde in die er wieder in mein Leben getreten war. Ich hätte wissen müssen, dass er sein Wort halten würde.

- Zehn Jahre zuvor –

Lindi sagt nichts, aber seine Tränen sprechen Bände. Er holt etwas aus seiner Hosentasche hervor – ein Stück Holz. Beim genaueren Hinsehen wird mir klar, dass das nicht einfach nur ein Stück Holz ist. Unsere Initialen sind eingeritzt. R + L. Rona und Lindi. Ich weine noch heftiger.

„Ich will da nicht hin. Du wirst nicht dort sein. Ich will nicht!"

Lindi drückt mir das Stück Holz in die Hand.

„Ich werde dich wiederfinden", sagt er.

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„Du hast mich gefunden ...", flüsterte ich mit erstickter Stimme. Natürlich war mir klar, dass es Zufall ... oder sogar Schicksal gewesen war, aber das spielte im Moment keine Rolle. Wir hatten uns gefunden. Nach über 10 Jahren, in denen ich nie die Hoffnung aufgegeben hatte in wieder zu sehen, stand er plötzlich vor mir. In Fleisch und Blut, und nicht bloß in meinen Gedanken.

Er machte einen Schritt auf mich zu, blieb dann jedoch zögernd stehen. Ungläubig sah er mich ein paar Sekunden lang an, schien fast nicht zu glauben, dass ich es wirklich war. „Rona ...", sagte er leise. Und das war der Moment in dem ich ihm mit einem Schluchzer um den Hals fiel. Meine Arme schlangen sich um seinen Nacken. Die Wucht meiner Umarmung ließ uns ein wenig schwanken, aber seine Hände fanden meine Taille, hielten mich fest, hielten mich sicher. Ich war sicher, hier in seinen Armen.

Ich weinte. Ich weinte hemmungslos. Um ihn. Um unsere verlorene Kindheit. Um die schrecklich einsamen Anfangsjahre als ich ihn zurücklassen musste. Ich weinte um mich, um Lindi und unsere wiedergefundene Freundschaft. Tiefe Schluchzer schüttelten meinen Körper, und ich befürchtete ich würde nie mehr aufhören zu weinen.

„Es ist okay", flüsterte Lindi in mein Ohr und strich mir über das Haar. „Ich bin hier, ich hab dich."

Ich weiß nicht genau, wie lange wir so dastanden. Ich genoss das Gefühl der Sicherheit, das mir seine Arme schenkten, die Nähe, die mir nach all den Jahren noch immer so vertraut war. Irgendwann löste ich mich mit einem zitternden Seufzer von ihm.

„Du heulst immer noch wie ein kleines Kind", sagte er auf einmal.

„Hey!" Lachend boxte ich ihm in den Arm. Er lachte ebenfalls, streckte die Hand aus und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Dann nahm er meine Hand und zog mich zur Liege, wo wir uns setzten.

„Ich glaub es nicht", sagte ich nach einer Weile, in der angenehmes Schweigen geherrscht hatte.

„Was glaubst du wie es mir gerade geht, Rona."

Oh Gott, mein Herz! Zehn Jahre musste ich darauf warten, um diesen Namen aus seinen Mund zu hören. Zehn lange Jahre, in denen ich es niemanden erlaubt hatte mich so zu nennen. Ein angenehmer Schauer durchfährt meinen Körper, und ich grinste so breit, dass mein Gesicht wehtut. Lindi drückte meine Hand, und ich drückte zurück und schaute ihn einfach an. Ich könnte ihn Stundenlang anschauen. Einfach nur hier herumsitzen, neben ihn, mit ihn, und die nächtliche Abendluft genießen, während die Sterne auf uns herableuchten.

Zwei Seiten der WahrheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt