Ein paar Sekunden lang war mein pochender Herzschlag alles was ich hörte. Dann flogen dutzende Gedanken durch meinen Kopf. Einer davon hob sich von den anderen ab; sie hatte mittlerweile ihre eigene Familie. Ich weiß nicht, wieso mich dieser Gedanke so fertig machte, schließlich waren 20 Jahre vergangen und enttäuscht zu sein, dass sie ihr Leben offensichtlich weitergelebt hat, war absurd. Aber trotzdem. Es tat weh. Sie hatte aufgegeben.
„Woher kennt ihr denn meine Oma?", fragte das Mädchen.
Ich riss den Kopf hoch. Oma? Hatte sie gerade Oma gesagt?
„Blerina, sei nicht so unhöflich und lass die Gäste herein", tadelte die blonde Frau – die anscheinend doch nicht meine Mutter war – ihre Tochter und trat zur Seite um uns hereinzulassen.
Ich war nicht in der Lage mich zu bewegen. Stattdessen blinzelte ich mehrmals verwirrt. Lindon war es, der nach meiner Hand griff und mich mit sich zog. Wir traten durch einen schmalen Korridor und wurden in ein großes Wohnzimmer geführt. Eine alte Frau, um die 70, wenn das weiße Haar und die Falten mich nicht täuschten, saß in einem Hocker. Ihre Augen starrten ins Leere, und sie schien uns nicht zu bemerken.
Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, sie wäre krank und litt vielleicht an Demenz. Doch dann bemerkte ich, dass sie den Kopf in Rhythmus zur Musik bewegte, die aus einem kleinen Radio spielte.
„Mutter, du hast Besuch", sagte die blonde Frau, nachdem sie das Radio ausschaltete.
„Sie sind ... sie sind Ardijana Avdyli?" Es war albern die Frage zu stellen, aber ich konnte nicht anders. Zu meinem Entsetzen erlosch das Leuchten auf dem Gesicht der alten Frau, sobald sie meine Stimme hörte.
„Du bist ein Mädchen", stellte sie mit überraschend rauer und kräftiger Stimme fest.
Die Enttäuschung war kaum zu überhören.
„Entschuldigen Sie bitte, aber ich glaube wir sind hier falsch." Ich hatte mich schon umgedreht, als die alte Frau erneut sprach und gleichzeitig Lindi nach meinem Arm griff.
„Es ist so lange her", begann sie, und ich konnte nicht anders, als stehen zu bleiben. Ihre Stimme hatte etwas Hypnotisierendes an sich. „Ich hatte gedacht, dass er endlich den Brief gefunden hat und gekommen ist, um nach seiner Mutter zu suchen."
Er. Er. Er.
Mein Herz setzte aus und ein flaues Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit. War das etwa alles nur ein Irrtum? Gehörte die Truhe gar nicht meiner Mutter? War alles ein nur ein Missverständnis?
Ich räusperte mich, um zu testen ob meine Stimme noch da war, bevor ich fortfuhr. „Diese Adresse und der Name Ardijana Avdyli waren angegeben, und ich dachte ... ich dachte ..." Letztendlich versagte meine Stimme doch. Ich hatte unglaublich Mühe vor Enttäuschung nicht in Tränen auszubrechen.
Ich weiß nicht genau wie, aber kurz darauf fand ich mich auf der Couch wieder. Ein Glas Wasser wurde mir hingehalten. Dankbar nahm ich es an und nahm einen Schluck. Dann spürte ich eine Hand auf meinem Arm – die von der alten Frau.
„Mein Kind, weine nicht", sagte sie. Die Hand fuhr weiter meinen Arm hinauf, bis sie schließlich auf meiner Wange landete, und ich hatte keine andere Möglichkeit als meinen Kopf zu heben. Tröstend strich sie mir über das Gesicht. „Bist du im Besitz einer Holztruhe, Liebes?"
Ich nickte, bis mir einfiel, dass sie mich gar nicht sehen konnte. „Ja", antwortete ich.
„Und du hast einen Brief gefunden, der dich zu mich geführt hat?" Wieder bestätigte ich ihre Frage, und ihre nachfolgenden Worte sorgten für einen kurzen Herzstillstand meinerseits. „Ich wusste, dass es klappt. Deine starrköpfige Mutter wollte mir nicht glauben."
DU LIEST GERADE
Zwei Seiten der Wahrheit
General FictionLironas Leben könnte besser nicht sein: Sie ist 20, hat wundervolle Adoptiveltern und eine scheinbar sichere Zukunft vor sich. Bis sie etwas erfährt, das sie eigentlich niemals hätte erfahren dürfen. Mit Hilfe eines alten Freundes macht sie sich auf...