Kapitel 12

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Erst als mein Blick wieder zum Brief wanderte, bemerkte ich, wie sehr meine Hand zitterte. Ich stieß einen tiefen Atemzug aus und versuchte mich zu beruhigen. Es ist sicherlich nur ein Stück Papier, dachte ich mir. Ein altes, wertloses Stück Papier. Aber trotzdem ... wie konnte ich in den all den Jahren in denen ich im Besitz dieser Truhe gewesen bin, nichts hiervon bemerkt haben? Wie konnte es mir entgehen?

„Lirona, willst du ..."

Lindon sprach nicht weiter, aber das musste er auch gar nicht. Natürlich wollte er wissen, ob ich heute noch vorhatte dieses gefaltete Stück Papier zu lesen, oder ob ich es vielleicht noch weiter anstarren wollte, als hätte ich ein Gespenst gesehen. Ein Gespenst ... ich unterdrückte den Drang hysterisch zu kichern, weil das Wort im Endeffekt gar nicht mal so falsch war. Ein Gespenst aus der Vergangenheit.

„Wenn du willst, dann lasse ich dich alleine, okay?"

Lindi legte seine Hand auf meinen Rücken, und, ich weiß wie kitschig es klingt, aber ich fühlte mich augenblicklich ... sicherer. Die Wärme seiner Finger, die ich durch meinen Top spürte, ließ mich leicht erschaudern. Als unsere Blicke sich trafen, schüttelte ich meinen Kopf. Meine Augen, in denen schon wieder Tränen schwammen und meine Sicht verschwimmen ließen, waren ihm eigentlich schon Antwort genug. Er setzte sich noch ein Stück näher an mich heran, was kaum möglich zu sein schien, und ließ mich wissen, dass er da war. Dass ich seine volle Unterstützung hatte – und die brauchte ich.

Einen tiefen Atemzug später klappte ich das Papier, das in einem überraschend guten Zustand war, schließlich auf. Albanische, sauber in kursiv geschriebene Worte blickten mit entgegen. Ich nahm zuerst das Datum wahr, das oben rechts eingetragen war – 24. September 1995. Das Datum sagte mir nichts und als ich schließlich die ersten Zeilen las, wuchs meine Irritation nur noch mehr.

Ka ardhur koha. Ata po vijne per t'ju marr. Shpirtat e mi, duhet ta dini se mami ka luftu."
(„Die Zeit ist gekommen. Sie kommen um euch zu holen. Meine Lieblinge, ihr müsst wissen, dass Mama gekämpft hat.")

Mein Herz begann schneller zu schlagen. Euch? Lieblinge? Mehrzahl. Ich war sprachlos.

„Soll das heißen, du bist ein Zwilling?"

Lindi durchbrach das Schweigen und stellte die Frage fast so, als hätte ich auch wirklich eine Antwort darauf. Es zu denken, war eine Sache. Es dann aber zu hören, laut und deutlich, war wiederrum etwas ganz anderes. Mein Herzschlag verdoppelte sich, und ich begann zu schwitzen. Ein Zwilling?

„Weiß ich nicht", flüsterte ich wahrheitsgemäß. „Klingt zumindest so, als wäre ich kein Einzelkind."

Ich musste meine ganze Willenskraft aufrufen, um weiterzulesen. Der nächste Satz bestätigte in der Tat, dass ich ein Zwilling war. Ein Zwilling, um Gottes willen!

„Ihr habt gerade erst das Licht der Welt erblickt, meine Engel, und ihr seid so wunderschön, dass ich es kaum schaffe meine Augen von euch zu nehmen, um diese Zeilen zu schreiben. Ich höre sie flüstern. Vor der Tür. Sie stehen dort und haben immerhin den Anstand um mir ein paar Minuten mit euch zu geben. Aber mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Solltet ihr das hier jemals zu lesen bekommen, dann müsst ihr mir bitte glauben: Ich habe keine andere Wahl. Euer Vater hat mir keine Wahl gelassen. Ich werde euch suchen. Auch wenn ich euch niemals wieder finden werde, ich werde euch suchen bis zu meinem letzten Atemzug. Ich habe keine Zeit euch Namen zu geben und nenne euch stattdessen einfach meine kleinen Engel. Mama liebt euch so sehr!"

Ich las den Brief nochmal und nochmal und nochmal, hoffte dabei irgendwas Wichtiges verpasst zu haben. Ein Hinweis vielleicht. Ein Name. Eine Telefonnummer. Egal wie absurd der Gedanken war, ich brauchte plötzlich etwas, dass mir Hoffnung gab. Meine Mutter. Meine Mutter hatte keine Wahl. Sie wollte mich nicht weggeben. Sie hat mich geliebt. Mich und meinen Bruder ... oder meine Schwester? Das Geschlecht war mir auch nach dem 10. Lesen ein Geheimnis. Ich seufzte tief als Lindi mir den Brief vorsichtig aus der Hand nahm. Meinen Kopf vergrub ich in meinen Schoß, und raufte mir das Haar.

Zwei Seiten der WahrheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt