Kapitel 20

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Obwohl ich noch im Halbschlaf war setzte ich mich augenblicklich auf und griff nach meinem klingelnden Handy. Ich hielt den Atem an als ich sah, dass es eine kosovarische Nummer war.

„Hallo?"

„Lira, bist du es, mein Kind?" Ardijana! Meine Hand legte sich auf meine Brust, und ich ließ einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Auch Lindon war aufgestanden und rieb sich die Augen. Ich nickte auf seinen fragenden Blick und schaltete den Lautsprecher ein. „Oj, Lira, sie haben es rausgefunden", sagte Ardijana nervös. „Sie haben es rausgefunden!"

„Ich weiß, ich weiß", antwortete ich leise.

Ich erzählte ihr in knappen Worten was gestern vorgefallen war. Es dauerte nicht lange bis Ardijana zu fluchen und letztendlich auch zu weinen begann. Nicht nur für uns schien der gestrige Tag turbulent gewesen zu sein. Auch Ardijana klang unglaublich aufgewühlt. Erneut wurde ich von Schuldgefühlen überflutet. Wenn ich gewusst hätte, dass die Suche nach meiner leiblichen Mutter solch ein Chaos verursachen würde ...

„Ihr müsst weg von hier", sagte Ardijana und riss mich aus meinen Gedanken. „Ihr dürft nicht länger hier bleiben, sie werden euch sonst finden."

„Aber ich weiß nicht einmal wo ich meine Mutter finden kann!" Die Verzweiflung in meiner Stimme war nur schwer zu überhören. Mir war klar, dass es mit jeder Minute gefährlicher wurde, aber wie sollte ich meine Mutter finden? Ohne Ardijanas Hilfe war ich geliefert.

„Deine Mutter hat geheiratet und ist nach Deutschland gegangen, Lira."

„Okay, okay." Ich stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu laufen. „Ich brauche ihre Kontaktdaten. Eine Adresse, oder eine Telefonnummer. Ihr zwei habt doch sicher noch Kontakt oder? Ihr telefoniert bestimmt? Sie kommt dich doch noch besuchen, oder?" Für einen kurzen Augenblick herrschte Stille am anderen Ende der Leitung und plötzlich wusste ich die Antwort auf meine Fragen ohne sie zu hören. „Ihr habt keinen Kontakt mehr", sagte ich überraschend ruhig. Es war keine Frage, mehr eine Feststellung. Ardijanas tiefer Seufzer verriet mir, dass ich Recht hatte.

„Vor ein paar Jahren hat sie ihre Besuche einfach eingestellt. Auch die Anrufe wurden seltener, bis sie schließlich gar nicht mehr kamen."

„Sie hat aufgegeben?" Meine Stimme zitterte. Ein flaues Gefühl nistete sich in meiner Magengegend ein. Ich taumelte zurück zum Bett und setzte mich. Lindon war sofort an meiner Seite und legte seinen Arm um meine Schultern.

„Nein!" warf Ardijana hastig ein. „Das darfst du nicht denken, Lirona! Deine Mutter hat den Kontakt abgebrochen, um mich zu schützen. Du siehst doch, was gerade passiert. Schon damals stand mein Haus unter Beobachtung. Alles wurde gemeldet. Wer kam, wer ging, wer anrief. Ich war ihre Zuflucht, ihr Halt, nachdem ihre Familie sie verstoßen hatte. Ich war die einzige Person, die ihre Geschichte wirklich kannte, die einzige Person, mit der sie darüber reden konnte. Und sie hat das alles aufgegeben, um mich zu schützen. Um mir keine Probleme zu bereiten. Ich habe nie die Hoffnung aufgegeben, dass sie wiederkommt. Ich habe gewusst, dass eines Tages jemand an meiner Tür klopfen wird. Das ist auch der Grund, wieso ich nicht nach Deutschland zu meinem Sohn gegangen bin. Ich werde weiterhin hier bleiben, weil ich weiß, dass Fatmire eines Tages wiederkommt."

Ein zittriger Atemzug entfuhr mir. Ich wollte nicht weinen, aber ich schaffte es nicht die Tränen zurückzuhalten. Lautlos rollten sie über meine Wangen und tropften auf meinen Schoß.

Ich hatte nichts. Nichts, das mich zu meiner leiblichen Mutter führen konnte. Trotz der Reise, trotz Ardijana's Geschichte; ich stand mit leeren Händen da. Die einzige Person, die mir jetzt noch Antworten geben konnte, war mein Vater. Ich wusste nicht, ob ich bereit war – ob ich jemals dazu bereit sein würde – ihn zu konfrontieren.

Zwei Seiten der WahrheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt