Kapitel 9

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‚Ich bin der Lindi. Ich bin der Lindi. Ich bin der Lindi.'

Für den Bruchteil einer Sekunde hörte mein Herz auf zu schlagen, und ich war mir sicher, ich hätte mich nur verhört. Doch dann wiederholte Amal kichernd seinen Namen und meine Gedanken begannen verrückt zu spielen. Lindi, mein Lindi, mein Lindon? Nein, quatsch. Unmöglich. Er könnte genauso gut auch Arlind heißen. Oder Jetlind, Herolind, Lindrit oder eben Lindon ... Oh Gott, oh Gott, oh Gott. Er kann nicht Lindon heißen, nein, nein, nein.

„Frau Morina, stimmt etwas nicht?" hörte ich ihn plötzlich fragen – Lindi.

Ich griff mir an den Hals. Mein Atem ging schwer. Ich fühlte mich fast so, als würde ich in einem rasenden Auto sitzen. Panik machte sich in mir breit. Schwankend stand ich auf, presste ein kaum hörbares „Ich bin gleich wieder da" hervor und stolperte aus der Küche. Im Flur musste ich mich an der Wand stützen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.

‚Reiß dich verdammt nochmal zusammen, Lira! Es ist nur ein dummer Name!'

„Frau Morina?"

Verdammt!

Ich fuhr zusammen und wirbelte herum. Da stand er, mein Fahrer, Herr Mehmeti, Mr. Roboter ... Lindi. Ein besorgter Gesichtsausdruck hatte sein Lächeln ersetzt, und für einen Augenblick sah es so aus, als würde er nach mir greifen wollen, doch er ließ seinen halbgehobenen Arm wieder sinken.

„Geht es Ihnen nicht gut?"

„Nein, ich ... ich meine ... mir geht es gut. Alles okay", stotterte ich.

„Sind Sie sicher?"

Ich runzelte die Stirn. Die Besorgnis in seiner Stimme irritierte mich. Wieso war ihm mein Wohlergehen plötzlich so wichtig? Und wieso verdammt nochmal kam es mir auf einmal so vor, als sehe er meinem Lindi ähnlich? Das braune Haar? Die schokoladenbraunen Augen? Oder war es das Lächeln, das mir nicht nur den Atem sondern auch den Verstand geraubt hatte?

‚Ich werde noch wahnsinnig. Es gibt hunderte Menschen, die Lindi heißen.'

„Es ist alles okay, Erinnerungen und so. Das passiert manchmal und dann bekomme ich Panik und brauche ein wenig Freiraum", sagte ich. Im Grunde genommen war das sogar die Wahrheit. „Bin gleich wieder da," fügte ich hinzu und schaffte es irgendwie ein schwaches Lächeln aufzusetzen.

Sein Gesichtsausdruck verriet mir, dass er mir nicht ganz glaubte, oder wenigstens versucht war nachzuhaken. Aber er schien zu wissen, dass wir diese Stelle in unserer Beziehung (Arbeitgeber, Arbeitnehmer Beziehung, ihr wisst schon was ich meine) noch nicht erreicht hatten. Statt zu antworten, nickte er kurz angebunden und verschwand wieder nach drinnen.

Ein paar tiefe Atemzüge später hatte ich mich endlich wieder unter Kontrolle. Zumindest meinen Körper. Meine Gedanken wollten da nicht richtig mitspielen. Trotzdem schaffte ich es die nächsten zwei Stunden in ... Lindis Nähe auszuhalten, ohne ihn am Kragen zu packen, ihn zu schütteln und hysterisch zu kreischen, ob er denn nun MEIN Lindi ist, oder nicht.

Als es schließlich Zeit war zu gehen, war ich wie üblich von den Kindern umzingelt. Ein paar klammerten sich sogar an meine Beine und jammerten, wieso ich denn nicht noch ein bisschen bleiben konnte – jedes Mal dasselbe. Lächelnd ging ich in die Hocke, umarmte jeden einzelnen ganz fest und versprach ihnen flüsternd, dass ich nächste Woche wieder kommen würde.

Amal hatte unterdessen Herrn Mehmetis (ich weigerte mich mittlerweile ihn Lindi zu nennen, wenn auch nur in Gedanken) Bein in Anspruch genommen. Ihre braunen Kulleraugen schimmerten in Tränen und sogar ihre Unterlippe zitterte, während sie immer wieder und immer wieder folgende Wörter wiederholte: „Lindi, bitte nicht gehen."

Zwei Seiten der WahrheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt