Kapitel 22

3K 200 13
                                    


Ein kräftiger, kahler Mann stand an der Fahrerseite und schaute ins Auto hinein. Für den Hauch einer Sekunde schoss Angst durch meinen Körper. In dieser Sekunde spielten sich erneut etliche Szenarien in meinem Gehirn ab. Eine Kugel in Lindons Kopf, in seiner Brust ... Blut, Blut, Blut.

Ein Glück, dass es nicht lange dauerte, bis ich erkannte, wer der Mann war – ein Angestellter des Parkplatzes. Auch Lindon schien nicht ganz ungerührt gewesen zu sein, das verriet mir sein flach gehender Atem. Er räusperte sich und ließ die Scheibe herunter.

„Habt ihr schon gezahlt?", fragte der Mann, der, wie mir jetzt auffiel, ein herzliches Lächeln hatte. Lindon schüttelte den Kopf und kramte nach Kleingeld, doch ich kam ihm zuvor.

„Passt so", sagte ich und reichte ihm einen fünf Euro Schein.

Er winkte uns zu, bevor Lindon aus dem Parkplatz fuhr. Erneut breitete sich eine unangenehme Stille aus. Ich hasste es. Die Spannung, die in der Luft lag, nahm uns Beiden die Worte. Nur Zentimeter saßen wir voneinander entfährt, doch seelisch standen Welten zwischen uns. Die Beziehung zwischen uns – welcher Natur auch immer sie nun war – hatte einen Knicks eingenommen. Meine Angst war, dass dieser Knicks irreparabel sein würde. Allein beim Gedanken daran zog sich mein Herz zusammen.

Nach ein paar Kilometern, fuhr Lindon rechts ran und schaltete den Motor aus.

„Hab ein paar Anrufe getätigt, während du vorhin auf der Toilette warst", begann er ruhig. „Habe uns zwei Tickets geholt, wir fahren nach Mazedonien und fliegen von dort aus nach Frankfurt zurück. Ein Kollege kommt dann und bringt den Wagen zurück, damit wir keine Probleme deshalb bekommen." Lindon stoppte kurz und wartete auf eine Antwort. Ich nickte nur schwach. „Ich hielt es für klug nicht von Prishtina aus zu fliegen. Würde mich nicht wundern, wenn die Männer deines Vaters dort warten."

Der letzte Satz klang fast wie ein Vorwurf. Als hätte ich irgendeinen Einfluss darauf, was mein Vater tat. Als wäre es meine Schuld, dass er mein ... unser Vater war. Natürlich entging mir auch nicht die Betonung, die Lindon auf „deines Vaters" legte. Er schien sich innerlich noch dagegen zu wehren überhaupt daran zu denken, dass Adem Morina auch sein Vater war. Wenn er es denn war. Ich war mir selbst noch nicht sicher, was ich glauben sollte. Auch wenn so vieles darauf hindeutete, dass wir wirklich Geschwister waren ... ich brauchte Fakten und Beweise. Ich brauchte es schwarz auf weiß.

„Vielleicht können wir noch einmal Ardijana anrufen, sie kann bestimmt –"

„Lass die alte Frau in Ruhe, wir haben ihr Leben genug durcheinander gebracht", fuhr Lindon mich an.

„Beruhige dich mal, du bist nicht der Einzige, der sich scheiße fühlt."

„Bin ich nicht?", spottete er.

„Was soll das denn heißen?" Ich drehte mich im Sitz um und sah ihm empört an.

Er schnaubte und schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, Lirona. Du siehst nicht so aus, als würde dich das, was wir heute erfahren haben, in irgendeiner Art und Weise mitnehmen."

Was zum? Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass er jemals so mit mir geredet hatte. Aber nicht nur seine Tonart verletzte mich, nein. Wie konnte er es wagen mir zu unterstellen, dass mich das alles kalt ließ? „Willst du mich eigentlich komplett verarschen?", schrie ich ihn an. Ich war so wütend und verletzt, dass ich ausstieg und die Tür zuknallte. Natürlich folgte Lindon mir.

„Steig in den Wagen, Lirona", wies er mich an.

„Einen scheiß mache ich!" Er wollte nach meinem Arm greifen, doch ich machte einen Schritt zurück und hob abwehrend die Hände. „Was erwartest du von mir, Lindon? Dass ich zusammenbreche? Dass ich ununterbrochen weine?" Mein Herzschlag hatte sich in wenigen Sekunden verdreifacht. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, um das Zittern meines Körpers zu unterdrücken und presste die Lippen aufeinander. „Tut mir leid, aber ich bin nun mal keine Heulsuse. Du weißt ganz genau, dass ich nur ungern Emotionen zeige, vor allem in der Öffentlichkeit. Aber das heißt nicht, dass es in mir drinnen nicht weint! Das heiß nicht, dass mich der Gedanke nicht fertig macht, es heißt nicht, dass ich nicht hoffe, bete, dass es nicht wahr ist!"

Zwei Seiten der WahrheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt