Kapitel 35

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Es war bereits nach 23 Uhr, als Maida mich schließlich nach Hause fuhr. Sie fuhr nicht ins Grundstück, hielt stattdessen vor dem Tor und schaltete den Motor aus. Ich sah zur Seite und starrte die riesen Villa an, in der ich die letzten zehn Jahre meines Lebens verbracht hatte. Mein Erbe, wie mein Vater es erst neulich noch genannt hatte. Zu wissen, wie dieses Erbe entstanden war ließ mir Galle in die Kehle steigen. Ich war das Kind eines Mafioso. Alles, das ich besaß, wurde mit schmutzigen Geld gekauft.

„Lira?"

Maida holte mich aus meinen Gedanken, bevor diese mich noch tiefer in den Abgrund ziehen konnten. Ich seufzte tief und rieb mir die pochenden Schläfen. Ich war erschöpft. Ausgelaugt. Vermutlich würde ich 24 Stunden am Stück durchschlafen, sobald mein Kopf ein Kissen berührte.

„Du musst das heute nicht machen, wenn du nicht willst", sagte Maida.

Ich schüttelte müde den Kopf. „Es geht nicht darum, ob ich will, sondern ob ich kann. Ich bin so müde, Maida. So müde von der ganzen scheiße."

„Ich weiß doch, zemer, ich weiß. Aber deine Mutter –"

„Ja, meine Mutter", unterbrach ich Maida. „Die Frau, die mich in den letzten Jahren großgezogen hat. Am liebsten würde ich ja meine Koffer packen und abhauen. Meine Vergangenheit vergessen und irgendwo ein neues Leben beginnen. Sie ist der einzige Grund, wieso ich es nicht tue."

Als Maida nichts darauf sagte, warf ich ihr einen Blick zu. Sie schmollte. „Und du natürlich."

„Gut gerettet", antwortete sie augenverdrehend. Sie streckte mir die Zunge heraus und schlug mir spielvoll auf den Arm. „Aber ich glaube, du hast schon wieder jemanden vergessen."

Nicht einmal eine ganze Minute hatte die gelockerte Stimmung gedauert. Jetzt war alles wieder Spannungsgeladen. Der Druck in meiner Brustgegend verstärkte sich. Lindon. Ja, auch Lindon war noch da. Es war aber nicht so, als hätte ich unser letztes Gespräch vergessen. Die Vorwürfe, die er mir gemacht hat. Die Schuldgefühle, die ich verspürt hatte.

‚Ich kann es nicht ertragen dich zu sehen, Lirona.'

Der Satz, der sich wie ein Schlag ins Gesicht angefühlt hatte. Jetzt, wo ich wieder daran dachte, wurde mir klar, dass er genauso schmerzte, wie die letzten Tage in dieser Hölle. Wenn nicht mehr.

„Ich weiß gar nicht, ob ich ihn sehen will", flüsterte ich kaum hörbar. Es war die Wahrheit.

„Er ist wahrscheinlich sowieso gar nicht hier." Maida zuckte mit den Schultern und öffnete ihre Wagentür. „Komm jetzt, steig aus und lass uns reingehen."

Ich folgte ihrer Anweisung. Der Weg bis zur Haustür fühlte sich extrem lang an. Selbst als Außenstehender hätte man direkt gemerkt, dass in diesem Haus etwas nicht stimmte. Es lag nicht nur daran, dass kaum Lichter brannten, was bei uns äußerst ungewohnt war, es war einfach die gesamte Atmosphäre. Die Stille und die bedrückte Aura, die vom Haus ausging. Ich schüttelte den Kopf und kramte den Hausschlüssel hervor, den ich Maida für Notfälle gegeben hatte. Meiner lag noch immer irgendwo in der Scheune mitsamt meiner Handtasche.

Ich hielt die Luft an. Öffnete die Haustür. Trat ein. Lief den Flur entlang. Blieb an der Schwelle des verdunkelten Wohnzimmers stehen. Spähte hinein. Erblickte meine Mutter auf der Couch. Die Beine eingezogen. Ihr Körper wippte vor und zurück. Sie blickte ins Nichts.

Ich atmete erst wieder, als sie auf einmal ihren Kopf in meine Richtung drehte. Scharf zog ich die Luft ein und betrat mit vorsichtigen Schritten das Zimmer.

„Mam?", sagte ich leise, als Mama regungslos auf der Couch sitzen blieb.

„Ich warte auf einen Anruf", antwortet sie tonlos und blickt wieder nach vorn – ins Nichts.

Zwei Seiten der WahrheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt