"Das hier war die heile Welt"

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Es war Samstag und wir waren mit fast allen Members des Clubs hochgefahren nach Carson City. Die Stadt lag in Nevada, nah an der Grenze zu Kalifornien und war die Wahlheimat meiner Großeltern. Entgegen meiner Erwartung, waren nur die Männer des MC's gefahren ohne Frauen. Dad hatte Damian und mich trotzdem eingepackt und mitgenommen, da es schließlich unsere Großeltern waren, die wir besuchten. Was meine Großeltern mit dem MC zu tun hatten? Ganz einfach. Grandpa fand in jungen Jahren seinen Weg in den MC, wurde Vize-Präsident und anschließend Präsident, heiratete Grandma, die wurde zur Oldlady von Grandpa und sie brachten vor 38 Jahren meinen Vater Charles zur Welt, welcher dadurch, genau wie mein Bruder und ich, im Club groß wurde. Grandpa ist quasi die erste Generation Hudson, die bei den Rebel Ridern Member war. Nachdem Grandpa seinen Präsidentenplatz freiwillig an Tacca abgab, um als Nomade der Rebel Rider umherzufahren, fand er seinen Platz in Carson City, wo bis heute die kleine Farm stand, auf welcher Damian und ich die ersten Jahre unseres Lebens verbrachten. Hier war die Welt noch in Ordnung und wir, als Geschwister, nicht zerstritten. Das hier, war die heile Welt für mich gewesen.

Ich saß auf dem Heuboden der Scheune und ließ die Beine von einem Heuballen hängen. Stumm sah ich durch die geöffneten Holztüren des Dachstuhls auf die Farm meiner Großeltern. Die Felder waren fast Erntebereit, auf den Wiesen standen Esel und Kühe und in dem großen Garten lag Buddy im Schatten der Bäume. Auf den Gartenstühlen saßen die älteren Members und unterhielten sich, währenddessen die anderen Members meinem Großvater auf der Farm halfen die Zäune zu reparieren oder andere Dinge auf die stürmische Zeit des Jahres vorzubereiten. Ich entdeckte Damian bei Dad im Schatten der Bäume, wie die beiden Holzbalken an dem Weidezaun austauschten. Dabei mussten sie immer wieder den neugierigen Bullen verscheuchen. Beide wirkten konzentriert. Meine Blicke verharrten auf meinem Bruder. Wann? Wann begannen Damian und ich uns so zu verhalten, wie wir es heute taten? Wann hörten wir auf zu reden und fingen an zu streiten? So wie es heute war, war es früher nicht gewesen. Wir wuchsen auf als glückliche Geschwister. Wir wuchsen auf der Farm von Grandma und Grandpa auf. In mitten von kleinen und großen Tieren, Dreck, Heu und viel Arbeit, mit aufgeschlagenen Knien und Stroh im Haar. Eine Kindheit, wie es nur die wenigsten hatten. Doch wir wuchsen nicht nur hier auf, in mitten dieser traumhaften Landschaft, sondern auch behütet vom Club. Wir wuchsen auf mit Waffen, Clubkriegen und Geheimnissen. Wir haben nie einen Kindergarten oder eine Vorschule besucht, dafür waren wir zu oft in irgendeinem Van gewesen und quer durchs Land gefahren. Ich hatte nie ein Problem damit gehabt und werde es glaube ich auch nie haben. Der Club war immer da und hat mich in meinem Heranwachsen zu einem Teenager nie gestört. Zumindest nicht spürbar. Als Damian und ich in die Stadt zogen änderte sich jedoch alles ziemlich schnell. Mom arbeitete viel, Grandma und Grandpa waren nicht da und zeitgleich waren einige Members wegen irgendeiner Sache im Knast, darunter auch Dad. Damian und ich wurden von anderen Clubmembers betreut und von da an begannen all die Streitigkeiten zwischen meinem Bruder und mir. Durch die Schule und seinen Freundeskreis hatte ich das Gefühl, das wir uns distanzierten. Ich war nicht mehr die kleine Schwester mit der man zusammen Brettspiele spielte oder zusammen zum Supermarkt lief, ich war das peinliche Anhängsel. Anfangs bat er mich drum, dass ich oben in meinem Zimmer blieb, wenn seine Freunde kamen, später zwang er mich dazu oder bestach mich. Ich wurde ihm mehr und mehr egal und heute, mit 16, bzw. 18 Jahren, war ich ihm egal. Wir lebten jeder unser eigenes Leben und wohnten nur unter einem Dach. Mehr nicht. Wir existierten mehr als das wir miteinander lebten. Es gab keine Gesprächsthemen mehr, denn es gab keinen Grund zu sprechen. Mom hatte sich von Anfang an nicht für unsere geschwisterlichen Streite interessiert, nur Dad wollte, dass wir uns nicht weiter auseinanderlebten. Er verbrachte so viel Zeit wie möglich mit uns beiden, musste dann aber des Öfteren weg, wegen Club-Angelegenheiten. Unteranderem auch wegen zwei Haftstrafen. Als er sie abgesessen hatte, war es schon zu spät um Damians und meine Geschwisterbeziehung zu retten. Wenn er mit uns beiden etwas unternahm, war ich der Hauptgesprächspartner. Damian war meist nur schweigsam und hörte mehr oder weniger anwesend zu. Mit der Zeit wurde es Alltag, bis auch Dad es aufgab. Wie ich hier so saß, begann ich die alten Zeiten zu vermissen. Das Leben hier auf der Farm war so viel familiärer gewesen. Ich hatte meinen Bruder geliebt, und heute? Heute war er immer noch mein Bruder, aber ob ich ihn immer noch als meinen Bruder liebte war ich mir nicht sicher.

„Elo?", rief Dad zu mir hoch und seine und Damians Blicke lagen auf mir. Kurz widmete ich meinem Bruder einen Blick, sah dann aber Dad an.

„Ja?", antwortete ich

„Kannst du die Esel reinholen? Ein Gewitter hängt in der Luft", bat er mich. Mein Blick fiel auf die Eselwiese und ich nickte. Ich kletterte vom Heuballen, ging die steile Holztreppe hinunter und lief durch die Scheune, in welcher die Boxen für die Esel und die Kühe waren. Auf dem Weg zu den Eseln kam mir Damian entgegen. Er warf mir lässig ein Seil zu.

„Brauchst du für den Großen", gab er monoton von sich.

„Ich weiß", murmelte ich genervt und ging stur weiter. Ich vermisste die Zeit von früher, als alles noch gut war. Ich holte die Esel rein und ging dann mit dem Seil zu der kleineren Weide. Das Seil band ich „dem Großen" an den Nasenring und führte den Bullen ebenfalls in den Stall. Am Horizont war das Unwetter bereits zu sehen.

„Na los Schätzchen, komm mit ins Esszimmer. Alle sind schon da", meinte Grandpa und legte liebevoll einen Arm über meine Schulter. Am langen Holztisch saßen bereits fast alle Members und warteten auf ihren Vizepräsidenten. Noch immer lag der Tacca, unser Präsident, im Krankenhaus und konnte nicht anwesend sein. Ich setzte mich mit an den Tisch, gegenüber von Damian, wie immer. Dad betrat den Raum und alle verstummten und zeigten somit ihren Respekt. Dad musterte jeden einzelnen von uns und nickte dann.

„Guten Hunger. Danke Mom das du uns alle hier bewirtest", sprach er in die Runde und nickte uns zu, „macht heute nicht so lange. Wir brechen noch während der Nachtwache auf" Beim letzten Satz sah Dad kurz nach oben und schloss minimal länger die Augen. Irgendwas war los, das spürte ich. Dad hatte sich wieder gefangen und sah zu Damian und mir.

„Und ihr", begann er und sah uns ernst an, „ihr reißt euch gefälligst zusammen" Sein ernster und fast schroffer Ton ließ nichts Gutes vermuten.

O U T L A WWo Geschichten leben. Entdecke jetzt