Bedrohliche Träume

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Am nächsten Morgen saß Hicca an der Klippe, von der sie vor drei Jahren heruntergesprungen war, und ließ die Beine baumeln. Ihre Gedanken waren nicht gerade fröhlich. Sie malte sich aus, wie viele Missetaten in ihrer Abwesenheit vorgingen, ohne dass sie etwas davon mitbekam.
Natürlich war es ein Unterschied, ob sie nun jetzt oder vor einem Jahr darüber nachgedacht hätte. Früher hatte sie deutlich mehr zu tun und musste deutlich mehr töten als in den letzten Wochen. Heute allerdings hatte man bereits Angst vor ihr und man kannte ihren Ruf, keine Gnade walten zu lassen und jeden einzelnen zu töten, der irgendetwas Kriminelles tat. Damit hatte sie weniger zu tun und zu töten. Nicht dass sie etwas dagegen gehabt hätte, aber der Gedanke, dass nur ein Mensch oder Drache in ihrer Abwesenheit starb, machte sie krank vor Sorge und Trauer.
Sie hörte Schritte hinter sich. "Was willst du, Ash?" fragte sie und hörte auf nach unten zu schauen, sondern hob ihren Kopf.
Hinter ihr erklang ein Seufzen. "Woher wusstest du, dass ich es bin?" fragte er un ging zu ihr.
"Nur so eine Ahnung." log sie. "Also, was willst du?"
"Mich mit dir unterhalten." sagte er und setzte sich neben sie auf die Klippe. Er wartete einen Moment, bevor er anfing zu grinsen.
Sie sah ihn skeptisch an. "Was ist so lustig?" wollte sie wissen und er grinste nur breiter.
"Kein Bestehen darauf, dass ich verdammt nochmal abhauen soll? Bist du wirklich Hicca? Ich hab mich schon fast daran gewöhnt." sagte er belustigt.
Sie lächelte und blickte wieder nach unten. "Entschuldigung falls ich dich enttäuscht haben sollte." erwiderte sie sarkastisch. Dann wurde sie etwas ernster. "Ich... ich mach mir nur Sorgen."
"Worum denn? Was ist los?" fragte er neugierig.
"Warum willst du das wissen?" entgegnete sie schnippisch.
Er blieb ruhig. "Ich hab dir doch gesagt, dass ich mich mit dir unterhalten möchte. Also, was bereitet dir Kopfzerbrechen?"
Sie seufzte. "Normalerweise wäre ich im gesamten Archipel unterwegs, würde die Verbannten, die Berserker und andere mörderische Banden davon abhalten, Drachen und Menschen zu töten. Stattdessen sitze ich auf dieser Insel und weiß nichts mit meiner Zeit anzufangen. Im Drachennest wurde ich wirklich respektiert und hatte wenigstens eine Aufgabe. Und hier? Ich sitze hier fest und male mir aus, was in der Abwesenheit der Nachtigall alles im Archipel geschieht. Man verlässt sich auf mich. Darauf, dass ich da bin wenn ich gebraucht werde." erzählte sie ihm, traurig und verzweifelt über die eigene Hilflosigkeit.
Er legte mitfühlend eine Hand auf ihre Schulter und sie sah ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue an. "Ich weiß, dass das für dich nicht leicht ist. Ich kann zwar noch nicht verstehen, warum du dich ausgerechnet um die Drachen sorgst, aber ich weiß auf jeden Fall dass du dich sehr um sie sorgst. Aber ich glaube, du übernimmst dich ein wenig, indem du das Wohl des gesamten Archipels über das deine stellst. Du musst wissen, dass deine Feinde niemals vollständig ausgemerzt werden können. Einer wird immer übrig bleiben, eine neue Armee aufbauen und erneut losziehen, um dir zu trotzen. Du kannst sie nicht alle beschützen. Und wenn du es versuchst, gehst du darin selbst unter. Du hast bereits vielen das Leben unendlich erleichtert. Aber du musst dir mal eines vorstellen: Würde es andere wie dich oder mehrere von deiner Sorte geben, dann könnten wir alle beinahe unbeschwert leben. Selbstlose, tapfere, gerechte Krieger und Kriegerinnen wie dich. Nur leider gibt es davon nur eine einzige und niemand anderes setzt sich für andere Menschen ein. Höchstens die Häuptlinge wie Haudrauf und ich, aber wir kümmern uns auch nur um unseren eigenen Kram. Nur Leute wie du haben die Mittel um etwas zu bewirken. Trotzdem solltest du dich nicht überheben und dir auch mal eine Auszeit gönnen. Führe dir immer mal vor Augen, wie das Archipel ohne das Einwirken der Nachtigall aussehen würde." sagte er und drückte leicht ihre Schulter.
Sie schüttelte den Kopf und lächelte traurig. "Danke für deine Worte, aber das hier ist eine Auszeit, die ich lieber im Nest verbringen würde. Mit dem Weißen König, mit Blitzflamme und den ganzen kleinen Drachenbabies. Vor allem mit Blitzflammes kleinem Schlüpfling."
Er blickte erstaunt drein. "Einen Moment, dein Skrill legt ein Ei?"
"Ja." sagte sie, nickte und lächelte. "Und ich bin sehr gespannt, wie das Baby aussehen wird."
"Nun, wie ein Skrill, oder etwa nicht?" fragte er verwirrt.
Sie kicherte leise. "Eben nicht. Der Vater ist Ohnezahn, mein Nachtschatten. Die beiden haben sich gepaart, wahrscheinlich weil sie einfach keinen anderen ihrer Art gefunden haben. Es könnte gut sein, das nicht nur der Nachtschatten, sondern auch der Skrill eine aussterbende Drachenrasse ist. Immerhin habe ich nie einen anderen Skrill oder Nachtschatten gesehen, geschweige denn einen mit passendem Geschlecht für die beiden. Nicht, dass es für die beiden nur die Notfalllösung war, das wollte ich damit nicht sagen. Sie haben sich schon von Anfang an gut verstanden."
"Ein Nachtschatten und ein Skrill." murmelte Ash. "Auf jeden Fall eine gefährliche Mischung. Meinst du, ihr Kind wird noch gefährlicher? Also dass es quasi alle tödlichen Eigenschaften seiner Eltern in sich vereint?"
"Wäre zumindest möglich." sagte Hicca nur.
Es entstand ein unangenehmes Schweigen, das Ash unbedingt durchbrechen wollte. "Sag mal, was ist das eigentlich mit deinen Augen? Ich bin mir ziemlich sicher, dass die mal ein weniger kräftiges Grün hatten." sagte er.
Hicca lächelte ihn geheimnisvoll an. "Berufsgeheimnis. Nur so viel: Die Färbung meiner Augen hat indirekt etwas damit zu tun, dass ich gestern wusste, dass du hinter dieser Säule bist."
Er setzte ein Schmollgesicht auf. "Verdammt. Jetzt hast du mich wirklich neugierig gemacht."
Sie lachte kurz und er lächelte. Ihr Lachen veranlasste sein Herz dazu, einen kleinen Hüpfer zu machen. Wie gern würde er es doch noch einmal hören.
"Tja." meinte sie grinsend. "Vielleicht erzähle ich es dir eines Tages, aber nicht heute."
Ash lächelte verschwörerisch. "Kann ich dich nicht vielleicht doch dazu überreden? Möglicherweise hilft ja eine kleine Bestechung?" schlug er vor und griff langsam nach einer Tasche an seinem Gürtel.
Hicca lächelte ihn von der Seite an. "Kommt darauf an, was es ist. Was hast du denn da drin? Du solltest wissen, für Geld habe ich keine Verwendung. Genauso wenig wie für eure Waffen. Ich kann Bessere herstellen. Ich persönlich denke, dass du mir nichts bieten ka-"
"Blume gefällig?" fragte er mit einem breiten Grinsen im Gesicht und hielt ihr eine blaue Blüte vor, an der sechs blaue Blätter waren, die sich zur Mitte hin zu einem reinen Schneeweiß färbten.
Sie blickte die Blume verdattert an und warf nur einen kurzen Blick auf den grinsenden Ash. Dann nahm sie langsam die Blume entgegen und hielt sie in beiden Händen wie einen kostbaren Schatz.
"Schneeglanz." sagte sie erstaunt und leise. Dann blickte sie Ash wieder an. "Das ist deer Name der Blume. Woher hast du sie?"
Er sah von ihr weg und kratzte sich verlegen am Kopf. "Naja, ich bin... einfach so... durch die Gegend gewandert und da habe ich diese... Blume gesehen und dachte mir... dass... dass sie dir... vielleicht... ganz vielleicht gefallen könnte." stotterte er. Was war nur los mit ihm? Er stotterte sonst nie so erbärmlich vor sich hin. Innerlich verfluchte er sich dafür.
Sie lächelte ihn warm an. "Du bist nicht nur irgendwo herumgewandert. Diese Blume wächst nur an Berghängen. Sie blüht nur kurz nach der Schneeschmelze und sonst nie.
Er gab sich geschlagen. "Schön, ich habe gezielt nach einer Blume gesucht, die in den Bergen wächst. Sonst wachsen ja nirgendwo welche. Das Klima auf Berk ist zu kalt für die normalen, also blieben mir nur die besonderen in den Bergen."
Ihr Lächeln behielt sie auf. "Du bist extra dafür in die Berge gegangen?" fragte sie und roch kurz an der Blüte. Dann zögerte sie einen Moment. "Woher wusstest du das?" fragte sie langsam.
Nervös umging er ihre Frage. "Wenn du willst, kannst du wieder etwas mit uns essen? Keine Sorge, niemand erwartet von dir, dass du kochst, also... was hälst du davon?" fragte er und sah genau in die entgegengesetzte Richtung.
"Ash." sagte sie mit drohendem Unterton, bis er wieder zu ihr blickte. "Woher wusstest du, dass ich Blumen, und vor allem blaue Blumen mag?" fragte sie mit deutlicher Skepsis.
Er versuchte sich herauszureden. "Das... war nur Zufall. Ich dachte mir nur, du bist nicht wie die meisten und da könntest du etwas mögen, das nicht die meisten mögen." log er.
Sie grinste ihn überlegen an. "Du lügst mich an."
"Tu ich gar nicht!" protestierte er lautstark.
Ihr Grinsen wurde breiter. "Wenn du die Wahrheit sagst, wieso wirst du dann laut?"
In seinem Kopf ratterte es, doch schließlich gab er sich geschlagen. "Oh, bei Thor. Na schön, ich hab Grobian gefragt wie ich das mit dir wieder hinbiegen kann und er meinte, dass Blumen helfen könnten."
Ihr Grinsen verstarb und ihr Blick fiel wieder auf die blau-weiße Blüte in ihren Händen. Dann lächelte sie und stand auf. "Na, immerhin etwas." sagte sie zu ihm und ging dann wieder in Richtung Dorf.
Er entließ erleichtert einen Atemzug, den er unbewusst angehalten hatte und ging dann nach Hause.
Als er die Tür öffnete, erwartete ihn eine Überraschung. Am Tisch saßen bereits Hicca und seine Mutter und warteten auf ihn. Beide lächelte ihn warm an. Er bemerkte, dass Hicca die kleine Blume sich in die Haare hinter dem Ohr gesteckt hatte. Er lächelte zurück und setzte sich ebenfalls hin, direkt neben Hicca.
Sie begannen zu essen und nach einer Weile blickte Ash ein wenig traurig drein. Hicca bemerkte das. "Was hast du denn?" fragte sie und versuchte ihre Sorge zu verstecken.
Er setzte ein trauriges Lächeln auf. "Ich vermisse einfach nur bereits das Essen, das du gestern gemacht hast. Meine Mutter ist nicht schlecht, aber ich denke, du bist um Längen besser."
Sie schmunzelte und wandte sich wieder ihrem Teller zu. "Ein Jammer, dass ich nicht sehr oft koche." sagte sie und schmunzelte. "Meistens fangen die Drachen Fisch und geben mir etwas ab. Natürlich grillen sie sie vorher kurz. Etwas anderes braucht man nicht. Einmal kurz Drachenfeuer und schon ist der Fisch durch. Köstlich, wenn ihr mich fragt." schwärmte sie und erhielt befremdliche Blicke von den beiden Hoffersons.
"Ist das..." begann Ash. "Ist das nicht irgendwie seltsam? Vom Geschmack her meine ich."
"Nein, überhaupt nicht. Wenn, dann schmeckt Fisch dank Drachenfeuer noch besser." meinte sie. "Ich verrate euch mal, was der Unterschied zwischen Drachenfeuer und normalem Feuer ist: Bei normalem Feuer, das aus Holz oder Kohle hervorsticht, werden kleine Kohleteilchen nach oben geschleudert. Deshalb 'verkohlt' der Fisch auch, wenn er zu lange über dem Feuer ist. Und Kohle am Essen will niemand. In Drachenfeuer ist keine Kohle enthalten, daher auch ein besserer Geschmack. Ich finde es also ehrlich gesagt widerlicher, Fisch über einem eurer Feuer zu braten."
Sigrid neigte den Kopf zur Seite. "Das ergibt Sinn, schätze ich. Ich würde so etwas gern einmal probieren. Meinst du, ein paar Drachen könnten uns sogar auf Berk helfen?" fragte sie.
Ash starrte sie an. "Aber Mutter!" rief er erschrocken.
Doch sie unterbrach ihn. "Erzähl mir nicht, dass die Drachen unsere Feinde und wilde Bestien sind. Du hast mir erzählt, was dir Hicca erzählt hat und sie ist keine Lügnerin. Wenn jemand unser Feind war, dann der Rote Tod, der jetzt laut Hicca allerdings tot ist. Denk mal darüber nach: Seit über zwei Jahren hatten wir keine Drachenangriffe mehr. Es passt perfekt in ihre Geschichte, die ich definitiv nicht anzweifeln werde. Nur weil wir nichts von riesigen Drachen wissen heißt das nicht, dass sie nicht existieren. Und wenn dieser Drache die anderen tatsächlich nur gezwungen hat, dann sehe ich nicht ein warum nicht einmal friedliche Drachen nach Berk kommen sollten."
Hicca warf theatralisch die Arme in die Höhe. "Ich danke dir, Odin, dass du diese Frau mit Intelligenz und Logik gesegnet hast." rief sie.
"Hey! Das war fies." grummelte Ash gespielt. Er konnte vielleicht Hicca allein trotzen, aber doch nicht, wenn sogar seine Mutter auf ihrer Seite war. Wenn andere diesen Frieden mit den Drachen sahen, dann musste er doch möglich sein, oder nicht? "Egal." sagte er und seufzte mit einem milden Lächeln im Gesicht. "Ich schätze, ihr habt recht. Also Hicca, meinst du, Drachen könnten hierher kommen, damit wir den anderen zeigen können, wie du mit ihnen umgehst?"
Hicca schnaubte verächtlich. "Mal abgesehen davon, dass immer noch so ziemlich jeder hier einen Drachen töten will, kommen die Drachen auch nicht einfach hier her."
"Wieso nicht?" fragte Sigrid verständnislos.
"Nun, einfach gesagt schämen sich die Drachen für das, was sie getan haben." klärte Hicca die beiden auf. "Der Rote Tod hatte sie zwar unter ihrer Kontrolle, aber sie wussten trotzdem was sie taten. Sie haben euch angegriffen, weil sie nicht anders konnten. Erstens sind die meisten Drachen unglaublich stolze Wesen und können den Gedanken kontrolliert zu werden nicht ertragen, und zweitens wissen sie auch, dass ihr nicht verstehen würdet, warum sie euch attackiert haben. Während die einen also den Ort ihrer Schande, an dem sie zu Taten gezwungen wurden die sie nicht ausführen wollten, meiden, kommen die anderen aus Angst nicht in die Nähe des Nestes vom Roten Tod und auch nicht in die Nähe der Dörfer. Bei Berk sind sich die Drachen einig. Es ist der am meisten von Drachen angegriffene Ort gewesen, da es dem Nest am nächsten war. Daher wird Berk nicht einmal angeflogen. Bei anderen Inseln teilen sich die Meinungen. Je weiter Orte vom Nest entfernt sind, desto mehr Drachen gibt es dort, nur eben kommen sie nicht hier her. Sozusagen werde ich also trotz dem Sieg über den Roten Tod und die Beendigung der Drachenangriffe festgehalten und kann hier nicht weg, weil keine Drachen da sind. Ich leide also für das, was ich für diese Insel getan habe. Ironisch, nicht wahr?" meinte sie und ging dann nach draußen.
Eine ganze Weile saßen die beiden Hoffersons nachdenklich da. Ash sagte als erstes wieder etwas. "Das Traurige daran ist: Sie hat recht. Eigentlich sollten wir sie zu einer Insel mit Drachen bringen." meinte er traurig.
Seine Mutter lächelte ihn sanft an. "Und uneigentlich?"
Er lächelte betrübt zurück. "Ich möchte, dass sie hier bleibt. Aber ich weiß, dass sie auch bei den Drachen ihren Platz hat. Wenn Frieden tatsächlich möglich wäre und es bedeuten könnte, dass Hicca bleibt, würde ich die Drachen mit Freuden hier mit uns leben lassen."
Sigrid seufzte. "Du weißt genau, dass der Großteil des Dorfes noch immer gegen Hiccas Ideen ist. Sie wollen noch immer jeden Drachen töten, der sich Berk nähert. Du magst zwar inzwischen das Oberhaupt sein, aber ein Oberhaupt kann nur Entscheidungen treffen, wenn er die Zustimmung derer hat, die er anführt. Wir müssten zuerst jeden von möglichem Frieden mit den Drachen überzeugen, bevor sie auf die Insel kommen könnten. Denn wenn auch nur ein Drache auf dieser Insel getötet werden würde, dann könnte Hicca dir die Schuld geben, da du die Verantwortung für Berk und seine Bewohner trägst. Damit bist du auch an allem mitschuldig, was dein Volk tut. Wir brauchen Zeit um sie alle zu überzeugen und, sobald das geschafft ist, auch Hicca." schlug sie vor.
Er nickte. "Vielleicht wäre es so das Beste." Dann zögerte er einen Moment. "Willst du... willst du noch immer dass sie und ich... naja..." stammelte er und sie nickte. "Verdammt!" murmelte er. "Wenn ich sie bis dahin noch nicht auf meine Seite ziehen kann, wird sie mich hinterher hassen. Oder sogar vorher, wenn ich nicht aufpasse. Geht das nicht aufzuschieben?" fragte er, aber irgendwie wusste er schon, dass seine Anfrage abgelehnt werden würde.
Und tatsächlich schüttelte Sigrid den Kopf, sah ihren Sohn dann jedoch verständnisvoll an. "Das geht leider nicht. Du musst das tun. Bald werden die Drachen möglicherweise hier auftauchen und sie wird mit ihnen fortgehen. Daher müssen wir die Zeit kürzen, die du hast. Du hast also nicht gerade viele Möglichkeiten. Entweder vergibt sie dir und verlässt diesen Ort aus Sorge um die Drachen trotzdem, oder du nimmst sie zur Frau und hoffst darauf, dass sie darüber irgendwie hinwegsehen kann. Bei der ersten Möglichkeit kannst du nur hoffen, dass sie zurückkehrt und dich freiwillig heiratet, aber wenn sie zu spät ist, musst du Raffnuss nehmen. Die zweite Möglichkeit verhindert, dass du Raffnuss nehmen musst und du kannst gleichzeitig darauf hoffen, dass Hicca sich doch eines Tages beruhigt. Und selbst wenn sie dann abhauen würde, wissen wir nun, wo wir ungefähr zu suchen haben: Im Norden. Zu weit im Norden könnten sie nicht leben, denn dann hätte man wirkliche Schwierigkeiten, sich um Nahrung zu kümmern. Irgendwo, wo nicht nur Eis ist, sondern anscheinend auch genügend Wasser zum Fischen. Wie auch immer: Im Grunde hast du keine Wahl. Hoffnung ist heutzutage ein schlechter Ratgeber, also frage ich dich: Wen willst du? Eine völlig verrückte, liebeskranke Raffnuss? Oder doch eher die talentierte, kluge Kämpferin, die jedoch noch einiges mit dir zu begleichen hat, Hicca?"
Ash rollte mit den Augen. "Selbstverständlich will ich Hicca, aber laut der Prophezeiung-"
Sie unterbrach ihn schnell. "Du weißt, was Gothi über die Prophezeiung gesagt hat. Na schön, gekritzelt. Egal, sie meinte doch, du sollst nicht absichtlich gegen jemanden verlieren den du magst, nur um sie guten Gewissens zur Frau nehmen zu können, nicht wahr?" Ash nickte zögerlich. Sie fuhr fort. "Im Grunde ist das nur eine Warnung, dein Glück nicht zu strapazieren. Du kannst nicht einfach jede Entscheidung treffen, die du willst und sie mit den Worten abtun: 'Laut der Prophezeiung geschieht dies und das doch sowieso. Also kann ich machen was ich will.'" Sie zog eine Grimasse und Ash grinste. "Damit will ich dir nur sagen, dass du Entscheidungen unabhängig von der Prophezeiung treffen können musst. Entscheidest du dich ihr gegenüber widersprüchlich, macht das alles zunichte. Stell dir doch einmal vor, du hättest, mal ganz stark aus der Luft gegriffen, Raffnuss davon erzählt und sie gegen dich gewinnen lassen. Aus welchen Gründen auch immer, das ist immerhin nur ein Beispiel. Aber was wäre dann aus der Prophezeiung geworden? Keine schwarze Gestalt, die aus der Dunkelheit herannaht und dich besiegt. Keine Hicca. Du darfst die Prophezeiung nicht herausfordern. Du musst dich entscheiden, als ob du sie nicht kennst. Ich weiß, das ist schwer, aber dennoch die einzige Möglichkeit."
Dann verließ auch Sigrid das Haus ihrer Familie und ließ Ash mit seinen Gedanken allein.
Er war hin- und hergerissen. Einerseits wollte er Hicca nicht verletzen. Im Gegenteil, er wollte sie glücklich machen, für alles Wiedergutmachung leisten. Die Blume hatte ihm außerdem gezeigt, dass sie noch immer etwas für ihn empfand. Vielleicht wollte sie es einfach nicht wahrhaben, aber genau deshalb wollte er ihr beweisen, dass sie ihn unbesorgt lieben könnte, ohne wieder verletzt zu werden.
Andererseits war es fast unmöglich, sie nicht zu verletzen. Es war nicht so, dass er eine große Wahl hatte, doch er musste irgendwie zur Erfüllung der Prophezeiung beitragen und sogar gleichzeitig die Forderungen seines Stammes, er solle sich innerhalb seines ersten Jahres als Häuptling eine Frau suchen, berücksichtigen. Er wusste, Hicca war nicht gerade ein einfach gestrickter Mensch. Sie hatte Erwartungen an ihn, die er nur über eine deutlich längere Zeit als zwei Wochen befriedigen konnte. Also würde er sie wohl enttäuschen müssen.
Ash seufzte. Er mochte seine Situation ganz und gar nicht.

Die Nachtigall von BerkWo Geschichten leben. Entdecke jetzt