Erwachen

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Haudrauf starrte sie nur an. Die Frau, die er vor 18 Jahren an einen Drachen verloren hatte. Aber nicht an irgendeinen Drachen, nein. Genau an den Drachen, neben dem sie jetzt stand. Zwei Gesichter waren vor ihm, die ihn all die Jahre in seinen Träumen verfolgt hatten.
Valka unterbrach seine Gedankengänge. "Überrascht mich zu sehen?" fragte sie emotionslos, aber mit deutlichem Missfallen im Gesicht.
Haudrauf blinzelte einige Male. "Du... du lebst. Aber... wie? Und... warum sehe ich dich erst jetzt?" fragte er verwirrt.
Ihre Augenbrauen zogen sich weiter zusammen. "Wie ich überlebt habe, willst du wissen? Das musste ich nicht. Wolkenspringer, der Sturmschneid, der mich damals mitnahm, hatte nie vor mir irgendetwas zu tun. In dem Moment, als wir uns gegenüberstanden und als du deine Axt zwischen uns geworfen hattest, wusste er schon dass ich hierher gehöre. In das Nest des Weißen Königs. Warum du mir erst jetzt gegenüberstehst? Weil ich nicht vorhatte, jemals dich noch irgendjemand anderes von Berk hier zu sehen, noch sonst irgendwo. Ich erkannte, dass Drachen nicht das waren, was ihr von ihnen dachtet. Ich erkannte ihr wahres, gütiges, sogar verspieltes und fröhliches Wesen. Wie oft habe ich darum gebeten mit den Kämpfen aufzuhören, aber hat mir irgendjemand zugehört? Nein. Noch nicht einmal du, Haudrauf. Welche Absicherung hatte ich, dass wenn ich euch Wolkenspringer zeige, ihr mich und ihn nicht töten würdet? Niemand von euch konnte sich ändern, wollte sich ändern. Ihr wart zu stur, zu dickköpfig, sodass ich wusste dass es keinen Sinn hatte zurück nach Berk mit der Wahrheit im Schlepptau zu kommen. Und als Hicca schließlich hierher kam, da wusste ich dass manche Menschen einfach von Geburt an anders sind. Dass nur manche von uns die Wahrheit erkennen und akzeptieren könnten, denn als sie euch Ohnezahn gezeigt hatte, was wolltet ihr da tun? Ihn umbringen und sie einsperren obwohl niemand von ihnen auch nur einem Berkianer ein noch so kleines Haar gekrümmt hat. Und noch eine Frage: Was hast du getan, als sie dich schließlich stolz gemacht hatte?" verlangte sie giftig zu wissen.
Grobian ging zu Hicca, noch immer ein wenig geschockt darüber, dass Valka am Leben war. "Deswegen hab ich nie geheiratet." meinte er trocken und Hicca sah ihn schief an, bevor er er mit einem andeutenden Blick zu Ash herübernickte. "Deswegen, und noch wegen was anderem." fügte er grinsend hinzu und Hiccas Gesicht bekam einen tiefen Rotton verpasst. Sie stieß ihrem Mentor mit dem Ellenbogen in die Rippen und als dieser aufstöhnte, wandte sich Ash etwas verwundert zu ihnen um. Hicca lächelte ihn nur etwas schüchtern an und er lächelte zurück, bevor er sich wieder zur wütenden Valka umdrehte, die noch immer keine Antwort erhalten hatte. Haudrauf war noch immer völlig sprachlos.
"Du hast sie verkauft!" spie sie voller Verachtung aus. "Du hast gesehen, dass sie etwas tat, das du billigen konntest. Etwas, das du halbwegs zu kennen glaubtest. Das Töten von Drachen. Du hast sie an diesen Hofferson-Burschen verkauft, der sie all die Jahre vorher missachtet hatte. Unser einziges Baby, alles was du von mir noch hattest, hast du weitergereicht wie ein Stück Vieh. Vielleicht ist es tatsächlich besser, dass ich hier im Nest geblieben bin, wenn dir so wenig wert ist, was ich zurückgelassen habe."
Nun erhob Haudrauf das Wort. Er war zwar verärgert über ihre Aussagen, aber er konnte sie auch bis zu einem gewissen Punkt verstehen. "Was weißt du schon, was ich all die Jahre durchmachen musste? Jede Nacht habe ich von dem selben Drachenangriff geträumt, von demselben Drachen, der dich mir und unserer Tochter entriss. Ich musste mich allein um sie kümmern und ich empfand nichts als Trauer wenn ich sie ansah. Ihr seid einander so ähnlich und der Gedanke, dass sie verschieden sein könnte wie du, hat mich fast in den Wahnsinn getrieben. Ich dachte, wenn sie aufwächst wie ich, vielleicht endet sie dann nicht wie du." erklärte er ihr.
Sie warf einen zornigen Blick zurück. "Du hast sie erzogen? Dass ich nicht lache! Du hast sie in die Schmiede zu Grobian gesteckt und dich mehr um das Dorf gekümmert als um deine eigene Tochter. Du wolltest sie aufwachsen lassen wie du es einst tatest? Du hättest es nicht dämlicher anstellen können. Was hast du getan, wenn du helfen wolltest? Du hast geholfen. Und Hicca? Ihr wurden Steine in den Weg gelegt. Sie hatte keine Muskeln, keine Kraft und keine Klinge. Alles was sie hatte, war ihr Verstand. Mit dem kann und konnte sie schon immer kämpfen wie niemand sonst. Aber hat es jemand gebilligt? Hat sie jemand ermutigt, wenn sie hinfiel? Nein, sie stand zwar jedes einzelne Mal wieder auf, doch wurde sie von euch verdammten Wikinger auch jedes Mal wieder umgeworfen und liegen gelassen. Nur Grobian war für sie da, bis sie sich mit der aus eurer Sicht gefährlichsten Bestie aller Zeiten anfreundete, die niemals jemanden am Leben lassen würde. Ohnezahn. Der Drache, der sie wieder auf die Beine brachte, sie stärker und klüger machte. Und als sie euch Frieden zeigte, als sie euch diese sogenannte herzlose Bestie zeigte, habt ihr sie gejagt. Und erst als sie unter Drachen lebte, konnte sie sich wahrhaftig entfalten. Ihre Stärken ausleben und ihre Schwächen unterdrücken. Ihr Wikinger habt ihr ja nie eine einzige Chance gegeben."
Hicca war beeindruckt. Sie hätte es niemals so gut selbst ausdrücken können wie ihre Mutter. Andererseits hatte sie für diese Standpauke auch 18 Jahre Zeit.
Haudrauf schnaubte. "DU kritisierst MICH?!" rief er. "DU bist doch diejenige, die sich 18 Jahre vor ihrer eigenen Heimat versteckte und sich 15 Jahre vor ihrer halben Familie versteckte. DU bist diejenige, die weggeblieben ist und sich dazu entschlossen hat, sich nicht um unsere Tochter zu kümmern."
"UND GENAU DESHALB HÄTTEST DU ES UMSO BESSER MACHEN SOLLEN ALS ICH!" schrie Valka ihn an und alle machten einen kleinen Schritt vor Erstaunen zurück. "Wenn ICH doch hier die Böse bin, warum hast DU dich dann nicht besser um unsere Tochter gekümmert als ich? Wegzubleiben war falsch und das erkenne ich von allen Momenten in diesem Augenblick am besten. Ich hätte zurückkommen und sie zu mir holen sollen, anstatt sie eine herzlosen Horde von Barbaren auszusetzen, die nicht einmal ihresgleichen vernünftig unterstützen und unter die Arme greifen können. Obwohl ich mit einigen anderen hier nicht so hart sein sollte." sagte sie plötzlich sehr viel weicher als vorher und wandte sich nun an einige der Wikinger. "Grobian, vor allem dir danke ich dafür, dass du aus Hicca so eine talentierte junge Frau gemacht hast. Ihre Waffen haben sie allseits gefürchtet gemacht und das hat sie ganz allein dir zu verdanken." Grobian nickte lächelnd. "Fischbein und Heidrun. Hicca hat mir in der letzten Woche erzählt, welch große Unterstützung ihr auf Berk die vergangenen Wochen für sie wart. Immer wenn sie irgendein Problem hatte konnte sie sich an euch wenden und dafür möchte ich mich auch bei euch bedanken." Auch das ungleiche Pärchen nickte lächelnd. "Und du, Ash." sagte sie dann etwas strenger.
Er schluckte schwer und unterbrach sie. "Ich weiß, dass ich in der Vergangenheit viel Mist gebaut habe, wenn es um Hicca geht, aber ich versuche mich zu bessern und ihr nun zu geben, was sie wirklich verdient hat." sagte er und sah die Frau vor sich etwas nervös an.
Nach einer Weile zuckten ihre Mundwinkel nach oben, bis sie anfing sanft zu lächeln. "Das ist sehr gut, junger Hofferson. Auch bei dir wollte ich mich bedanken. Dass du, ein angesehener Krieger, Ehre und Tradition beiseite geworfen hast um Hicca das Leben zu erleichtern. Was du getan hast, beziehungsweise nicht getan hast, stimmt mich wirklich froh. Aber sei gewarnt:" begann sie wieder etwas drohend. "Solltest du sie in irgendeiner Weise verletzen, dann werde ich dir persönlich das Leben zur Hölle machen und auch das Leben danach, damit das klar ist."
"Keine Sorge." sagte er und hob die Hände. "Ich habe keine Lust auf Ärger mit einer... durchgeknallten... Drachenlady." Dann schlug er sich schnell die Hände vor den Mund und sank etwas zusammen, aber Valka grinste nur zu ihm herunter.
"Durchgeknallte Drachenlady." murmelte sie abwägend. Dann grinste sie breiter. "Ich nehme das als Kompliment. Hicca, Kleines. Du hast mir gar nicht erzählt, dass dein Mann so ein Charmeur ist."
"Mutter..." murrte Hicca und errötete leicht.
Valkas Grinsen verschwand und sie sah wieder zu Haudrauf. "Ich werde etwas Ungeziefer aus den Gewässern beseitigen. Du bleibst hier und hörst gefälligst auf Hicca." sagte sie und kletterte dann auf Wolkenspringers Rücken, der sofort abhob.
Alle sahen ihr eine Weile hinterher, bevor sie in einer höhergelegenen Höhle verschwand.
Haudraufs Kopf flog direkt herum und er starrte Hicca direkt in die Augen. "Du wusstest davon! Warum hast du mir nichts gesagt?!" grollte er.
Sie stemmte trotzig ihre Fäuste in die Hüften. "Was sollte ich denn sagen?" meinte sie abwertend. "Hey, Väterchen, wusstest du schon, dass Mutter am Leben ist und in genau demselben Drachennest lebt, in dem ich seit 3 Jahren lebe? Oh, und lustiger, kleiner Fakt am Rande: Sie reitet den Drachen, der sie entführt hat, nur dass du Bescheid weißt." Sie schnaubte verächtlich. "Ja, ich glaube genau das hätte ich sagen sollen. Und jetzt folgt mir, ich zeige euch wo ihr schlafen könnt, wenn ihr euch jetzt ausruhen wollt. Wenn ich damit fertig bin, könnt ihr meinetwegen noch im Nest herumstreunern, aber ich garantiere für nichts, wenn ihr einen Drachen aufschreckt oder, Odin bewahre, einen angreift. Dann werde ich euch vergnügt zusehen, solange die Drachen im Vorteil sind." Mit diesen Worten ging sie voraus, dicht gefolgt von den anderen, ganz besonders von Ash.
"Also." begann er, als er neben seiner Frau und Ohnezahn herlief. Der Nadder war noch immer hinter ihm. "Das ist also deine Mutter."
"Tja." meinte Hicca schulterzuckend, ohne ihn anzusehen. "Jetzt weißt du, von wem ich das habe, dass ich so nachtragend bin."
Er lächelte. "Naja, so nachtragend bist du ja nun auch wieder nicht. Du hast nicht gerade wütend reagiert, als ich dir gesagt habe, dass ich dich liebe."
Sie wandte ihm ihr Gesicht etwas mehr zu, sah ihn aber noch nicht an. Es war aber genug, um ihre rotglühenden Wangen zu erkennen. "Weil ich gespürt habe, dass du die Wahrheit sagst. Das heißt aber nicht, dass du dir darauf etwas einzubilden brauchst." fügte sie schnell hinzu.
Er musste schmunzeln. "Ach komm schon, Hicca. Du magst mich. Wie du schon gesagt hast, du bist eine furchtbare Lügnerin. Gib es wenigstens zu." meinte er und lachte leise.
"Ja... ich meine nein... nein ich..." stammelte sie und seufzte. "Na gut, vielleicht, aber ich bin... mir noch nicht so ganz sicher. Gib... gib mir etwas Zeit." murmelte sie.
Eine Weile liefen sie schweigend weiter, bevor Ash eine Idee kam, bei der er breit grinsen musste.
"Was ist denn?" wollte sie neugierig und etwas verunsichert wissen.
"Ich? Nichts." log er. Sie sah ihn skeptisch an und er seufzte. "Na gut, schön. Ich wollte wissen, ob du mir beibringen könntest auf einem Drachen zu reiten." Es war zwar nur die halbe Wahrheit, aber fürs erste dürfte es genügen.
"Und wer sagt mir, dass du dem Drachen nicht eines Tages den Kopf abhackst?" fragte sie mit hochgezogener Augenbraue.
Er sah sie ungläubig an. "Ach komm schon. Wir hatten einen einzelnen Nadder eine ganze Woche auf unserem Schiff und du traust mir nicht?"
"Nein." sagte sie. "Ihr hattet ja mich noch zu finden."
"Aber du hast selbst bestätigt, dass ich Drachen nicht als grausame Bestien empfinde." widersprach er.
"Dafür weiß ich aber nicht, ob du sie stattdessen als pure Werkzeuge einsetzen würdest oder sogar als Waffen. Dann wärst du nicht besser als Drago Blutfaust und du hättest bei Ende des Tages keinen Kopf mehr."
"Hicca." sagte er ernst und griff sie bei der Schulter, um sie zu ihm zu drehen. Er deutete auf die Drachendame hinter ihm. "Dieser Nadder hier hat mich vor den Verbannten beschützt. Ich schulde ihr mein Leben und du weißt, wie viel uns Wikingern eine solche Schuld wert ist."
Sie zögerte für einen Moment und blickte zu Boden, bevor sie wieder zu ihm aufschaute und seufzte. "Also schön. Eine Chance. In einer Stunde vor der Höhle des Alpha. Unbewaffnet. Klar?"
"Wie Grobians Yaknudelsuppe." antwortete er fast sofort und sie grinste.
Sie schlug ihm spielerisch auf den Arm und warf ihm ein warmes Lächeln zu, bevor sie wieder etwas schneller vorausging.

Die Nachtigall von BerkWo Geschichten leben. Entdecke jetzt