Kapitel 22

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Die Gruppe wollte sich gerade auf den Heimweg machen, als Paul Milas Zögern bemerkte.

„Hey, was ist denn los? Magst du noch mal durchs Haus gehen?" Er hatte Mila schon den ganzen Morgen beobachtet. Es beschäftigte sie irgendetwas, nur konnte er nicht sagen, was.

Zuerst hatte er es auf den bevorstehenden Umzug nach Köln geschoben, doch jetzt waren alle Sachen gepackt, die Transporter gefüllt. Irgendetwas nagte an ihr.

„Denkt ihr... wir können zum Friedhof fahren?" Ihre Stimme war zittrig und es kostete sie all ihren Mut und ihre Kraft, überhaupt daran zu denken. Nicht nur, dass ihre Familie dort begraben lag, es war auch der Ausgangspunkt für alles bisher Geschehene.
Die Frau blickte in weit geöffnete Augen und leicht entsetzte Gesichter. Sie konnte förmlich hören, wie die Gedanken der umstehenden Polizisten rasten.
Sie muss sich doch verabschieden können von ihrer Familie, aber es wird alles wieder aufreißen. Paul war unschlüssig. Seine beiden Freunde hielten sich geschickt zurück. Das war etwas, in das sie sich auf keinen Fall einmischen konnten und wollten.

„Denkst du, du schaffst das?" fragte Paul schließlich. Er würde Mila nicht die Chance nehmen, auf Wiedersehen zu sagen.
„Ich weiß es nicht... Aber ich hätte euch gerne dabei. Das muss ich hier noch tun, Paul. Ich weiß nicht, ob und wann ich hierher zurückkehren kann."
„Okay. Dann lass uns dorthin fahren, aber wenn es dir zu viel wird, gehen wir direkt."

„Deal." Mila strahlte ein kleines Bisschen. Sie freute sich zwar, dass die Männer mitkommen würden, aber dennoch musste sie das Innerlich alleine durchstehen. Sie musste sich verabschieden. Und es würde dieses Mal kein ‚Bis gleich' werden.
Wortlos verteilte die Gruppe sich auf die beiden Transporter. Mila lotste sie zu dem kleinen Friedhof. Er wirkte bedrückend von außen. Doch im Inneren fühlte es sich irgendwie friedlich an.

Milas Hände begannen zu zittern und ihre Schritte wurden immer kleiner. Sie wusste genau, wo die Gräber ihrer Familie lagen und doch wollten ihre Beine sie nicht dorthin tragen. Sie spürte, wie Paul ihre Hand fest drückte. Er wollte ihr signalisieren, dass es okay war. Sie hatten keine Eile.
Mit neuer Kraft setzte sie ihren Weg fort bis sie schließlich an der Reihe ankam, in der ihre Familie ihre letzte Ruhe finden sollte.
Mit einem Handzeichen signalisierte sie den Beamten, am Anfang der Reihe stehen zu bleiben. Diese letzten Meter musste sie alleine überwinden. Sie löste ihre Finger aus Pauls und lief wackelig auf den einzigen Flecken Sonne zu.

Sie hatte keine Erde auf den Gräbern gewünscht, sondern ganze Marmorplatten. Damals dachte sie noch, sie würde nie wieder hierher zurückkehren, außer in ein Grab neben ihrem Bruder.

Sie ging auf die Knie und lies ihren Tränen freien Lauf. Seit dieser Nacht im Januar war sie nicht mehr hier gewesen.

„Mama, Papa, Jan. Ich bin doch noch nicht bei euch. Ich hoffe, ihr versteht das. Ich kann noch nicht gehen, meine Zeit ist noch nicht reif. Ich werde all das erleben, was ihr nicht mehr erleben konntet. Ich werde für euch leben, okay? Ich werde ein Haus bauen, irgendwann einen Mann finden, heiraten und Kinder bekommen. Und das Haus wird so sein, wie wir es uns immer vorgestellt haben. Hörst du, Mama? Wie oft haben wir uns ausgemalt, wie wir gerne leben wollen würden, wenn wir nur genug Geld hätten.
Und Mama, bei allem, was passiert ist, ich habe einen Mann kennengelernt. Er heißt Paul und er kommt aus Köln. Ironisch, nicht wahr? Deinen Mann lernst du in NRW kennen und er zieht zu dir nach Baden-Württemberg und ich lerne einen Mann aus NRW kennen und werde zu ihm ziehen.
Aber ich werde nicht mehr vorbeikommen, Mama. Vielleicht in einigen Jahren, aber nicht mehr so bald. Ich hoffe, du bist mir nicht böse. Und irgendwann, wenn ich mein Leben und eure Leben so gelebt habe, wie sie gelebt werden sollen, dann sehen wir uns alle wieder. Dann können wir uns alle wieder in die Arme nehmen.
Sag bitte Oma einen schönen Gruß von mir, ja? Und Opa, und Oma. Und irgendwann werde ich dann auch deinen Papa kennenlernen. Ich hoffe, du erzählst ihm nur Gutes von mir.
Ich vermisse euch so sehr. Ich weiß immer noch nicht, wie ich ohne euch leben soll, aber ich werde es versuchen. Paul ist wirklich toll, weißt du? Er ist Polizist und er wird mich beschützen. So wie ihr von da oben über mich wacht. Tief im Inneren weiß ich, dass ihr da seid und eure schützenden Hände über mich gelegt habt.
Ich werde euch immer lieben, hört ihr? Ihr werdet immer meine Familie bleiben, vergesst das nie. Auch wenn ich eine neue Familie gründen werde, so werdet ihr dennoch immer in meinem Herzen bleiben."

Mila war zwar nicht sehr religiös, aber sie wollte glauben, dass es irgendetwas nach dem Tod gab. Sie wollte nicht glauben, dass nach dem Tod einfach alles vorbei war. In ihrem Inneren Auge sah sie ihre Familie glücklich zusammen. Ihre Großeltern mit ihren Eltern und ihrem Bruder. Und alle gemeinsam wachten sie über Milas Leben.

Langsam erhob sie sich wieder. Sie hatte einiges auf dem Herzen gehabt, das sie nun loswerden konnte. Es war beruhigend zu wissen, dass sie ihrer Familie alles hatte sagen können, was sie sagen musste. Sie klopfte sich kleine Steinchen von den Knien und lief mit tiefroten Augen zu den Beamten zurück. Paul nahm sie fest in den Arm und streichelte ihr sanft über die Haare. Auch wenn die drei etwas abseits standen, so hatten sie doch jedes Wort gehört. Niemand der drei konnte von sich behaupten, so ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern zu haben. Sie waren aber auch alle Jungs.

Stumm gingen die Vier zu den Transportern zurück und traten den Weg in Milas neues Leben an.

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