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Die Tür sah einladend aus. Regelrecht freundlich. Das ganze Haus strahlte Sicherheit und Wärme aus. Es war in einem hellen Beige gestrichen, hatte zwei Stöcke und stand in einer gepflegten Nachbarschaft. Es schien wie das perfekte Einfamilienhaus für die perfekte Familie und ich sollte ihnen das nun zerstören. Dennoch, obwohl ich um die möglichen Konsequenzen wusste, drückte ich die Türklingel. Mein Kopf war wie leer gefegt und ich war mir sicher, dass ich kein einziges Wort herausbringen würde.

Von drinnen ertönte das Summen, dann hörte ich, wie jemand die Treppe herunterkam. Ich hielt den Atem an, meine Hand immer noch über der Klingel schwebend, zitterte unmerklich.
Als die Tür aufschwang, pochte mein Herz in einem wilden Rhythmus.

Ein junger Mann stand in der Tür, vielleicht ein paar Jahre älter als ich. Seine hellen, blauen Augen sahen mich ungeduldig an:,, Ja?''

Ich konnte ihn nur anstarren. Ihr Sohn. Das musste ihr Sohn sein. Er sah ihr ähnlich, hatte das gleiche sandfarbene, leicht gewellte Haar, die gleichen hohen Wangenknochen und er war gross.

Er neigte leicht genervt den Kopf: „Willst du was?"
Ich merkte, dass ich ihn die ganze Zeit nur stumm angestarrt habe.

„Ich...", meine Stimme war nicht mehr als ein Krächzen. Ich räusperte mich: „Ist Marcie hier?'' Ich klang noch immer rau, als hätte ich die letzten Nächte mit Freunden durchgefeiert. Oder Stunden nur geschrien.

Er musterte mich, sein Blick war ziemlich einschüchternd und ich wand mich unter seinen durchdringenden Augen.

„Was willst du von meiner Mutter? Kennst du sie?''

Ich nickte leicht und dankte Gott im Stillem, dass es schon dunkel wurde, ich meine Haare noch nicht geschnitten hatte und sie meine linke Gesichtshälfte ziemlich gut verdeckten. Hätte er meine blaue Wange und mein geschwollenes und träniges Auge gesehen, wäre er sicher noch misstrauischer gewesen.

Er schaute mich nochmals von oben bis unten an - in meinen schwarzen ausgeleierten Kleider bot ich einen wenig beeindruckenden Anblick - drehte sich dann um und rief nach seiner Mutter. Er blieb dann aber trotzdem in der Tür stehen und versperrte somit den Blick nach innen.

Eine Frau in den vierzigern kam an die Tür, ihr sandfarbenes Haar war in einem Dutt hochgebunden und sie hatte eine Schürze mit dem Spruch 'cooking mom' um die Hüften geschlungen. Als Marcie - meine Retterin, so hoffte ich - mich sah und erkannte, erstarrte sie. Man konnte förmlich sehen, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich und ihre Augen sich weiteten.

„Kennst du sie?", fragte ihr überaus charmanter Sohn sie. Zuerst war sie einen Moment lang still, dann nickte sie hektisch:„Mein Gott, komm herein, du musst völlig erschöpft sein... Und hungrig, ich bin Pasta am kochen", sie sprach hektisch und nannte meinen Namen nicht, wohlwissend, dass etwas nicht stimmte, wenn ich vor ihrer Tür stand.

Ich ignorierte Mister Charming und folgte ihr hinein. Es duftete herrlich nach Essen und warmes Licht strahlte von den Deckenlampen. Ein wunderschönes Zuhause entschied ich sofort.

Ihr Sohn - ich wusste noch immer nicht wie er hiess - lief hinter mir, das machte mich nervös. Seit... Ich konnte es nicht ausstehen, wenn jemand nahe meinem Rücken stand. Ich wusste auch nicht, wie lange ich noch hatte, bis ich vor Schmerzen und Erschöpfung zusammenbrechen würde.

Marcie führte mich in die Küche.
„Aspen, ich habe keine Milch mehr, könntest du schnell zum nächsten Laden fahren?", ihre Stimme zitterte ein wenig. Aspen. Das war also Mister Charmings Name.

Er zog irritiert die Augenbrauen zusammen:,, Es ist schon nach Acht, in diesem Kaff hat jetzt nichts mehr offen.''

Kluger Junge, er schien zu merken, dass er von dem, was hier gerade abging, keine Ahnung hatte. Und es schien ihm nicht zu gefallen.
Marcie wedelte nervös mit den Händen.

„Eine Tankstelle wird schon noch offen haben."

Aspen schien sich unsicher, er wusste nicht, ob er seine Mutter hier mit mir alleine lassen konnte. Beinahe hätte ich bitter gelacht. Dann nickte er jedoch, nahm seine Schlüssel und ging.

Als die Tür ins Schloss fiel, wirbelte seine Mutter zu mir herum. Sie schaute mich besorgt und doch neugierig an:„Was ist passiert, Süsse?'' Ich schluckte. Die Stunde der Wahrheit. Ich strich meine Haare zurück, bei denen ich bis jetzt darauf geachtet habe, dass sie an ihrem Platz blieben. Ihre Augen weiteten sich noch mehr und sie sog scharf die Luft ein.

„Bei Gott, wer war das? Wer hat dir das angetan?"

Ich schüttelte den Kopf:,, Ich werde dir alles erzählen, aber mein Rücken schmerzt unglaublich und ich weiss, dass du Krankenschwester bist, also könntest du...?" Ich liess den Satz in der Luft hängen.

Hektisch nickte sie:„Natürlich, entschuldige, das hier kommt nur etwas unerwartet", sie räumte den Esstisch ab, ,,komm, du kannst dich hier rauflegen."

Ich schwieg und zog meine Jacke aus, dann legte ich mich mit den Bauch nach unten auf den Tisch. Ein leiser Schmerzenslaut kam über meine Lippen. Ich biss sofort die Zähne zusammen.

„Du kannst mein Shirt aufschneiden", sagte ich leise zu ihr. Ich hatte zwar nicht viele Kleider dabei, doch ich hatte noch weniger Kraft und Energie im Moment.

Marcie murmelte etwas. Als ich die Schere spürte, schloss ich die Augen und bereitete mich auf den Schmerz vor. In dem Augenblick, als sie die Verbände aufschnitt, hörte ich sie keuchen. Ich konnte sie verstehen, ich sah furchtbar aus.

Ich schrie nicht, als sie meine Wunden versorgte, ich konnte nicht einmal weinen.

„Du solltest ins Krankenhaus gehen, Lucinda", ihre Stimme war belegt und sie räusperte sich mehrhaft.

„Du weisst ganz genau, dass das keine Option ist. Und mein Name ist nun nicht mehr Lucinda. Lucinda ist tot. Nenn mich Harlow." Ich hörte mich tot an.

„Was ist nur passiert'', hörte ich sie hinter mir aufgelöst flüstern. Alles. Alles war passiert.

love haunts - hate tooWo Geschichten leben. Entdecke jetzt