06 - 10 Jahre vorher

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„Luci! Ich werde dich finden!"

Die Stimme von Madox kam immer näher und ich drückte mich dichter an den Baumstamm heran. Ich hörte wie sich seine Schritte wieder entfernten und unterdrückte ein Kichern. Ganz vorsichtig lugte ich hinter meinem Versteck hervor, konnte Madox aber nirgends entdecken. Verwirrt runzelte ich die Stirn.

„Hab dich!", schrie mir jemand plötzlich ins Ohr und ich kreischte kurz auf.

Wütend drehte ich mich zu ihm um: „Madox! Erschreck mich doch nicht so." Beleidigt verschränkte ich die Arme, bevor ich sofort wieder an meinem Kleid - ein Geschenk zu meinem siebten Geburtstag - herumzuzupfen begann.
Madox hielt sich den Bauch und lachte mich aus.

Wie fies!

„Du hast gekreischt wie ein Mädchen!" Er lachte wieder.
Das war gemein, ich wollte immer lieber ein Junge sein. Dann musste man nicht immer so grässliche Kleider tragen und konnte im Dreck herumtollen, ohne danach dafür gescholten zu werden.

„Hab' ich nicht!"

„Hast du doch. Mädchen, Mädchen!", sang er und wedelte dabei mit den Armen herum.

Ich streckte ihm die Zunge heraus. Nur weil er schon elf war, hiess das nicht, dass er schneller als ich war. Madox hielt inne und ich spurtete so schnell ich konnte davon.

„Ich kriege dich, Luci, du kannst mir nicht davonlaufen!"

Ich lachte und beschleunigte noch weiter. Nach kurzer Zeit wagte ich es, einen Blick nach hinten zu werfen. Anscheinend würde ich davon kommen, als ich plötzlich gegen etwas lief und zu Boden fiel.

„Pass auf wo du hinläufst!" Ich blickte nach oben in Sanchos schwarze Augen, die mich zornig anstarrten.

Ich fasste an mein Knie, das schrecklich brannte und sah, dass ich mir einen Schnitt von einem Stein zugezogen hatte.

„Aua", heulte ich und wich seinem Blick aus.

Wieso hasste er mich nur so?

Auf einmal beugte sich Madox - er hatte mich eingeholt - über mich, Sorge in seinem Blick.

„Lucita! Mist! Komm, ich bring dich zu Señora Fuentes."

Er nahm meine Hand und half mir auf. Ich schrie kurz auf, als ich mein verletztes Knie belastete.

„Heulsuse", murmelte Sancho neben mir und Madox Augen richteten sich sofort wütend auf ihn.

„Hau ab, Sancho! Das nächste Mal, wenn Luci durch dich verletzt wird, lass ich dich nicht mehr so einfach vom Haken!" Seine Stimme war plötzlich hart geworden, schneidend.

Sie passte nicht zu einem Kind.

Das war den Lektionen von seinem Vater Don Antonio geschuldet, dem Herrn des Casa José Miguel. Unserem zu Hause.

Sancho spuckte aus: „Denkst du, ich würde dir gehorchen, Bruder?", er spie das letzte Wort förmlich aus, „du hast keine Autorität über mich, nur weil ich drei Minuten jünger bin als du."

Erschrocken zuckte ich vor dem Hass in seiner Stimme zurück. Sancho warf Madox, seinem Zwillingsbruder noch einen letzten verabscheuenden Blick zu und ging dann Richtung Casa.

Eine Zeit lang blieben wir beide still, bevor Madox das Wort ergriff: „Komm, Luci, Señora Fuentes soll dich verarzten."

Ich nickte und er stützte mich, als wir auch in die Richtung des Anwesens liefen.

„Wieso hasst uns Sancho so sehr?", fragte ich leise.

Er stiess die Luft aus: „Du bist noch zu jung um das zu verstehen. Ausserdem hasst er uns nicht."

Ich zog eine beleidigte Miene, ich war nicht zu jung!

„Warum tut er dann immer so, als würde er uns hassen? Man kann seinen Bruder doch gar nicht hassen."

Er grinste mich an: „In ein paar Jahren wirst du es verstehen."

Señora Fuentes war ausser sich, obwohl es sich nur um einen kleinen Schnitt handelte. Sie war eine warmherzige Frau in den Vierzigern und unsere Hausärztin. Seit ich denken konnte lebte sie schon im Casa José Miguel. Es war nach Madox Ur-, Ur-, Urgrossvater benannt, der es gebaut hatte.
Ein Anwesen mitten im Nirgendwo in Mexico.
Doch ich liebte alles daran. Ich konnte gar nicht anders, da ich es noch nie verlassen hatte.

Madox hielt meine Hand, während sie die Wunde desinfizierte.

„Du musst besser aufpassen, Lucinda!", zetterte sie, „als Seelengeberin bist du sehr wichtig für Madox und die Leute hier."

Ich verdrehte die Augen. Jedes Mal sagte man mir das Gleiche. Die Familie Ramírez war mit einem Fluch belegt und ich war die einzige, die den Fluch für Madox brechen konnte. Sie waren alle unglaublich froh, dass sie mich schon gefunden hatten, ich war sehr wertvoll, bla, bla, bla...

Ich zuckte zusammen, als ein kurzer scharfer Schmerz von meinem Knie ausging und ich schon wieder spürte, wie Tränen sich ihren Weg durch meine Augen fanden.

„Lo siento, pequeña." - Tut mir Leid, Kleine

Ich musste stark sein, Madox musste unbedingt sehen, dass ich keine Heulsuse war.

„Es muss nichts genäht werden, aber du musst dein Knie in den nächsten Tagen schonen. ¿Comprende?"

Ich nickte brav

„Keine Sorge Señora Fuentes, ich werde sie nicht aus den Augen lassen", meinte Madox und warf mir einen strafenden Blick zu. War das jetzt meine Schuld?

Señora Fuentes lächelte nachsichtig. „Ich werde dieses Mal dem Don nichts erzählen, da er im Augenblick nicht im Casa weilt. Aber das ist das letzte Mal, habt ihr mich verstanden?", fragte sie streng und wir nickten erleichtert unisono.

„Gut", meinte sie zufrieden, „und jetzt ab mit euch." Das liessen wir uns nicht zwei Mal sagen.

Das Anwesen war alles, woran ich mich erinnern konnte, doch meine Mamá hatte mir gesagt, dass wir erst hierher gezogen waren, als ich schon zwei Jahre alt gewesen war.
Sie sagten, dass ich die Gabe in mir hätte, oder besser gesagt die richtige Seele für den ältesten Sohn des Dons. Ich wusste nicht recht was das hiess, sondern nur, dass ich hier leben durfte und Madox und ich nie getrennt werden würden.
Das gefiel mir, denn ich mochte Madox. Seinen Bruder Sancho mochte ich nicht, Madox aber schon. Er beschützte mich immer und hatte mich noch nie im Stich gelassen.

Zwillinge, wie Tag und Nacht. Der eine das Paradies, der andere die Hölle.

love haunts - hate tooWo Geschichten leben. Entdecke jetzt