Prolog: Das verborgene Königreich

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„Dieser Wald...", setzte Varisse an und sah hoch in die Baumkronen. „Er erinnert mich an Loriens Gärten", fuhr sie langsam fort und Itarille nickte. Die Bäume waren groß und leuchteten in einem bläulichen Grün. Vögel sprangen auf den Ästen hin und her und zwitscherten wunderschöne Melodien. Larcatal suchte sich einen Weg durch den dichten Buchenwald und hielt den Kopf gesenkt, während er immer wieder etwas Gras knabberte. „Einer der Mächtigen herrscht über diesen Wald", flüsterte Itarille und ihr Blick schweifte durch den Wald. Kein Laub bedeckte den Boden. Stattdessen wuchsen Blumen in allen Blautönen und dunkelgrünes Gras bedeckte den Boden zum Großteil. Schmetterlinge ließen sich auf den Blumen nieder und flogen im nächsten Moment wieder davon. Von weitem hörte Itarille das Rauschen eines Flusses, welches immer wieder von dem Vogelgezwitscher überdeckt wurde. „Es ist wunderschön", murmelte Varisse fasziniert. Itarille erwiderte nichts. Ihre Beine lagen locker am Pferdebauch und ihr linker Arm ruhte auf ihrem Oberschenkel, während sie mit ihrer Linken in Larcatals Mähne gegriffen hatte. Sie genoss die Geborgenheit, die dieser Wald ausstrahlte. Nach der ganzen Aufregung der letzten Tage war das Gefühl von Sicherheit kostbarer als je zuvor. Larcatal bummelte entspannt durch die Gegend und zeigte kein Zeichen von Müdigkeit, obwohl er seit ihrer Ankunft in Beleriand kaum Ruhe gefunden hatte. Varisse bemerkte derweil, dass ihre Verletzungen des Werwolf Angriffs so schnell verheilten, dass sie zusehen konnte wie die Wunden sich schlossen. Außerdem war die Sehnsucht verschwunden, ihre Familie zu finden. Stattdessen hatte sie das Verlangen, den Wald nie mehr zu verlassen.

Larcatal stoppte und hob den Kopf, als er unmittelbar vor dem breiten Fluss stand. Itarille ließ sich langsam vom Pferderücken gleiten und kniete sich ans Flussufer. Vorsichtig streckte sie ihre Hand in das klare Wasser und zuckte zurück. „Was ist?", fragte Varisse und rutschte von dem Schimmel herunter. „Das Wasser ist eiskalt", nuschelte Itarille und erhob sich, bevor ihr Blick den Strom herunter glitt. Der dichte Wald grenzte ans Ufer, jedoch war keine Brücke in Sicht. „Was jetzt?", fragte Varisse unsicher und sah die Blonde von der Seite an. Itarilles Blick fuhr zurück und mit verzerrtem Gesicht sah sie auf die Wasseroberfläche. Einen Moment noch zögerte sie, bevor sie sich zu Varisse drehte. „Der Fluss ist an dieser Stelle zu tief. Lass uns Flussaufwärts gehen", sagte sie und trat an Varisse vorbei. Larcatal schnaufte und folgte Itarille. Zuletzt ging Varisse mit ständigem Blick auf den Fluss, in der Hoffnung eine Stelle zu finden, an der sie passieren konnten. Der Weg am Flussufer entlang war nicht gerade ein leichter. Entweder stand ein Baum direkt am Fluss oder der Boden fiel zum Strom steil ab. Itarille war besorgt, dass Larcatal an diesen Stellen wegrutschen würde, aber das Pferd hielt sich direkt hinter seiner Reiterin auf und so konnte Itarille den Schimmel relativ sicher am Ufer entlang führen. „Warum reiten wir eigentlich nicht?", murmelte Varisse und ließ ihren Blick nicht vom Wasser ab. „ Zu gefährlich", antwortete Itarille knapp und Varisse hielt an. „Seit wann ist dir reiten zu gefährlich?", platzte sie heraus und sah Itarille, die ebenfalls angehalten hatte, entgeistert an. „Ich mein sonst reitest du doch auch ohne Rücksicht auf Verluste", fügte sie schnell hinzu, was jedoch nichts an Itarilles Auffassung dieser Aussage änderte. „Was soll das jetzt bitte heißen?", fragte sie aufgebracht und stemmte die Arme auf die Hüften. „Ich will damit doch nur sagen, dass dir sonst kein Weg zu gefährlich ist und du eine begnadete Reiterin bist!", verbesserte Varisse mit schuldbewusstem Blick. „Na vielen Dank", grummelte Itarille. „Aber ich habe nicht das Verlangen baden zu gehen, wenn Larcatal abrutschen sollte", erklärte sie und drehte sich wieder um. Kaum hatte sie den ersten Schritt gemacht, setzte sich auch das Pferd wieder in Bewegung.

Mit verzogenem Gesicht setzte Itarille einen Fuß in den kalten Fluss. Augenblicklich jagte die Kälte ihr Bein hoch und sie biss sich auf die Lippe. Zögerlich zog sie ihr linkes Bein nach und balancierte sich mit den Armen aus. Der Grund des Stromes war eine Mischung aus Schlamm und Steinen, sodass es Itarille doch recht leicht fiel in dem Wasser zu stehen, jedoch drückte die Strömung sie zur Seite. Mit ausgebreiteten Armen machte sie den nächsten Schritt und Larcatal sprang schnaubend das Ufer herunter. Das Wasser ging Itarille nun bis zur Hüfte, obwohl sie nicht einmal die Hälfte überquert hatte. „Larcatal, komm her!", flüsterte sie und das Pferd drängte sich neben sie. Mit zitternder Hand fasste sie in die Mähne des Schimmels und drehte sich um. Ihr Blick traf den von Varisse, die mit hochgezogenen Schultern durch das eiskalte Wasser wanderte. „Komm zu mir", forderte Itarille ihre Begleiterin auf und hielt ihr ihre freie Hand hin. Varisse umfasste diese fest und blieb dann ein Stück hinter Itarille stehen. „Los vorwärts!", sprach Itarille und Larcatal ging weiter. Itarilles Griff um die Strähnen in der Mähne verfestigte sich und sie blieb dicht an Larcatal. Der Körper des Pferdes hielt zwar die Strömung von Itarille fern, dennoch wurde der Fluss stets tiefer. Außerdem krabbelte die Kälte durch ihren ganzen Körper und ihre Beine fühlten sich mittlerweile taub an. Als sie die Mitte des Flusses endlich erreicht hatten, stand ihr das Wasser bis unter die Brust. Varisse grummelte und ihr Griff um Itarilles Hand verhärtete sich. Ihre Lippen waren blau und ihr Gesicht hatte sämtliche Farbe verloren. „Komm halt durch, bald haben wir es geschafft", versuchte Itarille sie aufzumuntern und dann riss ihr etwas die Füße vom Boden weg. Mit einem lauten Schrei ließ Varisse sie los und Itarille krallte sich an Larcatal fest, der sofort stehen geblieben war. Mit aller Kraft versuchte sie sich an dem Pferd hochzuziehen, allerdings waren ihre Muskeln so verkrampft vor Kälte, dass sie es kaum schaffte. Die Strömung drückte sie von Larcatal weg und angestrengt versuchte sie mit ihrer anderen Hand ebenfalls die Mähne zu erreichen, während das Wasser was ihren Brustbereich und ihren Hals bedeckte, ihr das Atmen schwer machte. Varisse packte ihren Arm und drückte sie unter Schmerzen an das Pferd heran. Keuchend packte Itarille mit ihrer Hand an den Pferdehals und zog sich mühsam auf Larcatals Rücken. Nach Luft ringend lag sie mit ihrem Oberkörper über das Pferd gelehnt und der schwache Wind ließ sie erschaudern. Einen Moment lang hielt sie inne und zog dann ihr linkes Bein über die Kruppe. Kaum saß sie auf dem Pferd, tauchte auch ihr linkes Bein wieder in das eiskalte Wasser. „Varisse", hauchte Itarille und hielt ihr die Hand hin. Mit zitternden Fingern packte Varisse Itarilles Hand und wurde von Itarille ebenfalls auf Larcatal gezogen. Das Pferd schüttelte ungeduldig den Kopf und kaum saß Varisse sicher hinter Itarille, trieb sie den Schimmel vorwärts. Larcatal hatte auch seine Schwierigkeiten, das kalte Wasser zu durchqueren und Itarille hätte schwören können, dass er zittert.

Mit hängendem Kopf erreichte Larcatal das andere Ufer. Itarille ließ sich direkt von ihm herunter gleiten und forderte Varisse auch zum Absteigen auf. Der Schimmel schnaufte und legte sich erschöpft auf das grüne Gras. Itarille kniete sich neben ihn und streichelte seinen Hals. Die Kälte hatte nun jeden Teil ihres Körpers erreicht und die nassen Kleider klebten an ihrer Haut. „Fast erfroren in dem verdammt kalten Wasser und trotzdem sehen wir keinen Schritt besser aus", maulte Varisse und ließ sich an einem der Bäume herab sinken. Itarille musterte ihr weißes Kleid und Varisse hatte Recht. Nicht einmal der Dreck, geschweige denn das Blut, hatte sich im Fluss heraus gewaschen. „So hab ich mir unser Abenteuer irgendwie nicht vorgestellt", murmelte Varisse und lehnte sich an den Stamm. „Nicht nur du", stimmte Itarille ihr zu und sah auf den Pferdehals und ihre Hand, mit der sie sanft über das feuchte Fell strich. „In Aman habe ich ständig über die Geschichten die überliefert werden nachgedacht. Ob sie wohl stimmen?", träumte Varisse und sah in die Baumkronen. „Ich wollte unbedingt mein eigenes Abenteuer erleben. Allerdings bin ich nicht davon ausgegangen, dass wir nach nicht einmal einer Woche fast dreimal gestorben wären", lachte Itarille und sah zu Varisse. In ihrem Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab. „Ein wütender Elbenkönig, ein Rudel Werwölfe und ein eiskalter Fluss", zählte Varisse grinsend auf. „Unsere eigene Geschichte", fügte sie zufrieden hinzu. „Und es gibt noch genug Seiten die beschrieben werden wollen", sprach Itarille ruhig und ihr Blick traf den von Varisse. Sie antwortete nicht mehr, sondern nickte lediglich, bevor sie ihren Blick wieder abwendete. „Ist das...?", fragte sie verwundert und erhob sich. „Was ist?", entgegnete Itarille überrascht und sah zu, wie Varisse auf einen Baum zu lief. „Schau es dir an. Es sieht aus wie ein Weg!", sagte sie aufgeregt und Itarille stand auf. Neben dem Baum war das Gras zertreten und es wirkte wirklich wie ein Weg. „Hier läuft auf jeden Fall häufiger wer lang", flüsterte Itarille und drehte ihren Kopf. „Larcatal, komm!", forderte sie den Schimmel auf, der sich langsam erhob. Varisse ging vor und folgte dem Trampelpfad. Itarille lief dicht gefolgt von Larcatal hinter ihr her.

Itarille & Thranduil || Im SternenlichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt