Blutende Finsternis

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Leon's nächste Worte verschwanden in einem Poltern, das den Boden unter unseren Füßen erzittern ließen. Durch das plötzliche Erdbeben hatten sich die Wurzeln der Bäume gelockert, und hinter mir krachten die Baumkronen ineinander. Wir sahen uns an und wussten sogleich, wessen Werk das war. Den Spielmachern war offenbar missfallen, dass wir alle drei heil und wieder vereint waren und nirgendwo gekämpft wurde. Die Kapitolbewohner hatten vielleicht gedacht, dass ich auch sterben würde, bei dem Versuch, Leon zu retten. Doch ich hatte ihnen das Gegenteil bewiesen. Und das regte sie mächtig auf. Da fiel mir ein, dass es seit vier Tagen keine Tode mehr gab, was vermutlich zur Unlust der Zuschauer geführt haben musste. Jetzt mussten sie es wieder einheizen, die Spiele aufregend gestalten. Wie wir am eigenen Leib erfahren hatten.

Emilia flitzte an uns vorbei, und übernahm die Führung. Wie eine einzige Bewegung folgten wir ihr und rannten durch den Wald. Es musste einen Ort geben, wo die Spielmacher keine gezielten Angriffe auf uns starten konnten, wo sie die Felsbrocken stoppen müssten, die uns um die Ohren flogen. Könnte sein, dass wir dann auf Killer-Grizzlybären oder monströse Wölfe trafen, doch im Moment zählte das nur als Nebensache. „Eva, hier lang!" Ich riss meine Beine um, in die Richtung, in der ich Emilia's Stimme vermutete. Ich war so in Furcht vor der sich auftürmenden Erde, Staub wirbelte um mich auf, ich lief immer geradeaus, wusste nicht mehr, wo oben und unten war, geschweige denn wo sich meine Freunde befanden. Plötzlich stolperte ich an einer Wurzel und fiel der Länge nach hin. Ich hörte einen entsetzten Schrei, ich war mir beinahe sicher dass mein Name gerufen worden war. Kurz darauf sah ich durch die aufgewühlte Erde einen immer größer werdenden Schatten über mir.

Ich riss den Kopf hoch und erkannte, dass ich in nur zwei Sekunden zerquetscht werden könnte, denn ein mächtiger Baumstamm kam direkt auf mich zu! Im selben Zeitpunkt drehte ich mich zur Seite, spürte jedoch im nächsten Moment einen heftigen Schmerz an meiner wunden Schulter. Ich schloss die Augen und biss die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien. „Eva!" Ich blinzelte benommen und realisierte irgendwie, wie mich Leon auf die Beine hob. Ich dachte, er wäre mit Emilia geflohen? Irgendwie konnte ich in der Hetze nicht richtig denken. „Kannst du gehen?", fragte er außer Atem. Ich krempelte mein linkes Hosenbein hoch. Blut kam aus einer offenen Wunde am Unterschenkel, die circa zwanzig Zentimeter lang war und schmerzhaft brannte. Meine linke Schulter sah nicht minder verletzt aus. Die Rötung der Verbrennung war zurückgegangen, doch der Schnitt war aufgeplatzt und blutete erneut. Verdammt, dachte ich. Wieder erzitterte die Erde. Leon legte sich meinen Arm um seine Schulter und half mir, obwohl ich nur humpeln konnte. Wir liefen, so gut es ging, weiter zu ein paar Felsen. Dort waren wir einigermaßen geschützt. Der Boden war für kurze Zeit ruhig, und bewegte sich nicht. Vermutlich brannte woanders gerade ein Kampf, das war nämlich viel spannender für diese blutsüchtigen Leute.

Ich legte mich nieder und sah jetzt auch Emilia. Sie holte ein paar Wurzeln und zerstoßene Blätter aus ihrer Hosentasche, zerkaute sie und spuckte den grünlichen Brei auf meinen Arm. Das Brennen hörte ein wenig auf. Erneut bebte die Erde und man hörte einen schrillen Aufschrei. Ich humpelte langsam nach draußen und sah nach vor. Zehn Meter von uns entfernt begrub eine Linde und große Steine ein junges Mädchen unter sich. Die Kanone erklang, dann war es wieder ruhig. Wir traten näher und ich zog scharf die Luft ein, als ich erkannte, wessen Körper im Geröll lag. Flora, das hübsche Mädchen aus dem 6. Distrikt. Während des Trainings hatte ich mich immer wieder mit ihr unterhalten und als ich sie als Verbündete aufnehmen wollte, lehnte sie ab, da sie Leon's Kraft misstraute. In der Arena hatte ich hin und wieder gedacht, sie wäre eine gute Verbündete gewesen. Nun war sie tot. Ich spürte einen Stich der Trauer, doch ich war gleichzeitig froh, noch Emilia und Leon heil und gesund bei mir zu haben.

Das nächste Erdbeben folgte. Es war grausam. Der Erdboden wackelte, und wir fielen sprichwörtlich um, da wir kein Gleichgewicht mehr hatten. Schlagartig hörte ich ein Geräusch unter mir. Feine Ritze zogen sich über den Erdboden, die sich zu einem gigantischen Loch bildeten. Es verschlang Steine und Wurzeln, Pflanzen und Sträucher. Unter mir bröselte die trockene Erdfläche auseinander, ich fand nirgends Halt und rutschte immer schneller immer tiefer in die Spalte, die alles um uns herum verschluckte. „Ich rutsche ab!", schrie ich, doch das Beben übertönte meine Stimme bei weitem. Steine schlugen hart an meine Schulter, mein Bein wurde aufgerieben, Schmerzen raubten mir die Sinne. Meine Finger gruben sich in den Schlamm, doch sie blieben nicht stecken, wie ich gehofft hatte, sondern hinterließen nur tiefe Furchen. Die Erde verwandelte sich vor meinen vor Angst geweiteten Augen, der Schmerz kroch meinen linken Arm hinab, und ich spürte, wie meine Füße das bisschen Halt, das ich hatte, verloren. Ich erwartete jeden Moment die krachende Erde, die sich über mir wie eine Welle zusammenschlug und mich unter sich begraben würde. Doch sie kam nicht. Ich blinzelte und erfasste das helle Licht, das durch die Bäume fiel. Die Welt war augenblicklich ruhig, die Vögel zwitscherten, der Wind strich mir ins verschwitzte, zerkratzte Gesicht und das Beben hatte endlich ein Ende.

Endless Hope ~ Die 36. ArenaspieleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt