Im Turm der Tribute beeilte ich mich, im mein Zimmer zu kommen, ohne dass Leon mich sah. Ich knallte die Tür zu, verschloss sie ruckartig und rannte blindlings auf die Terrasse. Der kühle Wind strich mir über das Gesicht und war angenehm, milderte meine Wut und meine Verzweiflung aber nicht im Geringsten.
Wie konnte er nur? Wie um alles in der Welt konnte er in Betracht ziehen, zu den Karrieros zu gehen, einer von ihnen zu werden? Es ergab keinen Sinn, da er mir im Zug zugestimmt hatte, dass wir gemeinsam trainieren konnten.
Einmal war es vorgekommen, dass sechs Karrieretribute einen Jungen aus 7 fragten, ob er ein Bündnis mit ihnen eingehen mochte. Der Junge stimmte begeistert zu, doch in Wirklichkeit wurde er hinterhältig getäuscht. Die Karrieros hatten von Anfang an vorgehabt, den Jungen zu töten, sobald er in ihren Augen nur einen Fehler machte. Und er wurde tatsächlich schon am zweiten Tag von der Anführerin der Bande umgebracht. Dass Leon es bemerken würde, wenn sie vorhätten, ihn austricksen, war mir klar. Trotzdem: Er machte einen großen Fehler! Flash sah in ihm einen Konkurrenten und wollte sein Vertrauen gewinnen, damit er ihn manipulieren konnte. Leon war der einzige Junge, der kräftig gebaut und schlau war und sein Talent mit dem Schwert ließ sich auch zeigen. Flash wollte ihn aus dem Weg räumen, aber wieso sah das Leon nicht?
Ich stand auf, und beschloss, dass ich später, wenn die Karten auf dem Tisch wären, noch genug schmollen könnte. Ich musste mit ihm reden, auch wenn ich noch so wütend war.
Also ging ich ging in die Diele und klopfte an Leons Tür. Keine Antwort. Ich hob die Hand und klopfte wieder. Immer noch nichts. Vielleicht war er auf seiner Terrasse, da hörte man das Hämmern an der Tür nicht. „Leon!", rief ich. Stille. Kurz zögerte ich, dann drückte ich mit der Hand die Klinke hinunter und trat ein. Wider Erwarten glich sein Zimmer meinem exakt, nur, dass sein Spiegel neben dem Bett, und nicht wie bei mir im Bad, hing. Die Kleider, die er bei der Eröffnungsfeier trug, hingen an der Sessellehne, und im Raum roch es nach dem Duftwasser, dass er bei der Eröffnung getragen hatte. Auf jeden Fall war Leon nicht hier. Ich schloss die Tür und eilte zu den Stylistinnen, dann zu Emma, und anschließend fragte ich meinen Mentor. Doch niemand wusste, wo er steckte.
Da hatte ich eine Eingebung. Er könnte bei den Karrieros sein! Gleich darauf schüttelte ich so heftig den Kopf, dass mir meine Haare ins Gesicht schlugen. Es war verboten, andere Wohnungen zu betreten, und überdies würde er nicht so tief sinken, und Flash's Angebot wahrlich annehmen, oder? Doch nachdem, was die Karrieros gesagt hatten, und Leons Reaktion darauf ... es war nicht ausgeschlossen. Ich seufzte.
Morgen würden sie ihn erneut fragen, und dann wollten sie seine Entscheidung hören. Cleo räumte in der Diele auf und sah mich mitfühlend an. Ob sie als Tributin etwas Ähnliches durchgemacht hatte, fragte ich mich unwillkürlich.
Meine Füße liefen wie von selbst zum Lift und ich hörten mich „Trainingscenter" sagen. Dort hatte ich noch gar nicht nachgesehen. Ich ging mit lautlosen Schritten in den dunklen Raum, und dachte schon, bis auf einige verlassene Trainingsgeräte war er leer, als ich eine Gestalt ausfindig machte. Sie saß mit dem Rücken zu mir am Rande der Halle. Ich ging auf sie zu, und erkannte sofort die muskulösen Oberarme, die braunen Haare, den Teint der Haut. „Leon." Er rührte sich nicht. „Leon, bitte." „Was willst du hier?", fragte er, ohne mich anzusehen. Ich setzte mich neben ihn auf ein paar Trainingsmatten. „Mit dir reden." Er wandte den Kopf zur Seite und ich musste mich beherrschen, nicht zusammen zu zucken bei dem stechenden Blick, den er mir zuwarf. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Sonst wirkte sein Blick immer so freundlich und sanft. „Warum willst du reden?", fragte er kalt. Ich überhörte seinen bissigen Ton. „Um dir zu sagen, dass du eine Chance auf den Sieg hast, Leon. Sogar mehr als nur eine Chance." Ich hatte mir vorhin genau die Worte gewählt, die ich ihm sagen wollte. „Du bist kräftig. Schnell. Schlau. Du kannst kämpfen, wie kein anderer hier. Das weißt du genauso gut wie ich. Ich will nur wissen, wieso du das alles zunichtemachen und ihnen folgen willst." Ich achtete darauf, meine Stimme ruhig klingen zu lassen. Leon verdrehte die Augen. „Eva, das hatten wir doch schon! Eben genau weil ich dieses Talent habe, möchte ich das. Es würde sie ergänzen! Und ihre Kräfte würden uns ergänzen! Was ist mit dir? Du bist schnell, schlau und deine Spezialität sind Pfeil und Bogen. Scarlett hat gesagt, sie könnte dich darin unterstützen, noch besser zu werden." Ich fiel fast von der Matte. „Was?", rief ich aus. „Du hast es ihnen erzählt?! Du hast ihnen erzählt, dass ich gut schießen kann?!" Hoffentlich hatte ich mich verhört. Er blickte mir in die Augen. „Na und? Was macht das für einen Unterschied?" Ich starrte ihn fassungslos an. Wut, Trauer, Unglauben, Verrat. All diese Gefühle vermischten sich in mir, ich fühlte mich einfach nur gelinkt und benutzt. Er hatte versprochen, niemandem etwas von unseren wahren Fähigkeiten zu verraten, und nun wussten es die Karrieros. Diejenigen, vor denen ich es unbedingt geheim halten wollte! Um jeden Preis. Jetzt hatte ich nicht einmal mehr eine Geheimwaffe. „Ich würde lieber sterben, als Hilfe von denen zu haben! Sie wollen dich für sich gewinnen, damit du ihre Marionette spielst. Und dann, wenn du mal nicht aufpasst, fallen sie allesamt über dich her und lachen sich halb tot, wenn die Kanone ertönt, weil du ihre Masche abgenommen hast!" Jetzt schrie ich beinahe, in mir tobte ein Sturm, der drohte mit jedem Wort noch stärker zu werden. Leon blickte mich finster an. „Das stimmt nicht! Wie kannst du nur so etwas behaupten?!" „Ganz einfach: Es ist die Wahrheit!", rief ich. „Da irrst du dich. Max hat versprochen, mir zu helfen, und Alex hat mir gezeigt, wie man Fallen so baut, dass sie praktisch unsichtbar sind. Ich hab viel von ihnen gelernt." „Das hätte Jack dir auch beibringen können! Er ist unser Mentor, nicht diese Typen." „Jack muss aber nicht in die Arena, oder?", antwortete er eisig. Ich erwiderte nichts, schüttelte nur den Kopf. Ich hatte versagt. Wenn es das was er wollte, bitte. Sollte er. Ich hatte alles versucht.
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Endless Hope ~ Die 36. Arenaspiele
أدب الهواةAls die 14-jährige Eva für die alljährlichen Spiele, die jedes Jahr in Panem von dem dort herrschenden Kapitol befehligt werden, ausgelost wird, ist ihr klar, dass sie nicht den Hauch einer Chance hat, in der Arena zu überleben. Oder etwa doch? Geme...