Zu spät

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In den Sekunden, die es brauchte meine Sachen zusammen zu packen, mir die Jacke anzuziehen und mein Messer in den Gürtel zu stecken, stand das Wasser knöchelhoch in meiner Grotte. Fieberhaft überlegte ich, was ich jetzt tun sollte. Die Spielmacher mussten den Fluss ansteigen haben lassen, und jetzt drückte das Gewicht der Wassermassen in die Höhle. Ich starrte auf das kleine Loch zwei Meter über mir und schrie, was meine Kehle hergab. Ich schrie abwechselnd Hilfe, dann Leon's und Emilia's Namen, immer wieder, und immer lauter, doch niemand antwortete mir. Soll doch eine Mutation oder die Karrieros kommen, dachte ich grimmig. Ich saß buchstäblich in der Falle, hier konnte ich nicht raus. Plötzlich hatte ich eine Stimme im Ohr. Ich will dich nicht verlieren.

Leon, dachte ich. Er hatte es zu mir gesagt. „Ich will dich nicht verlieren." Ich senkte den Kopf und küsste den blauen Edelstein an meinem Hals. „Du wirst mich nicht so schnell los.", sagte ich und fühlte eine ganz neue Kraft in mir.

Das Wasser schwappte mir über den Bauch, langsam aber sicher, wurde meine Zeit knapp. Fieberhaft überlegte ich, wie ich mich retten sollte. Ein reicher Bewohner des Kapitols könnte mir helfen, wenn er schnell wäre. Aber da es der eigentliche Sinn war, Tribute aus den Distrikten sterben zu sehen, weil es ja so unterhaltsam war, standen meine Chancen auf Hilfe gleich null. Mein Bein spürte einen kurzen Strudel, der vermutlich von der Strömung kam. Da schoss es mir wie ein Blitz in den Kopf. Jetzt wusste ich, wie ich hier rauskam! Aber mein Plan war riskant, genauer gesagt lebensgefährlich, selbstmörderisch.

„Du schaffst das." Wieder hatte ich Leon's Stimme in meinem Ohr. Und wieder fasste ich etwas mehr Mut. Ich schwamm zu der Stelle, wo die aufgewirbelte Wasseroberfläche zeigte, das sich direkt unter mir der Strömung befand. Fieberhaft dachte ich noch einmal über meinen Plan nach und tauchte dann unter. Wenn die gesamte Grotte unter Wasser wäre, gäbe es keine Strömung mehr. Das Loch, welches aufgebrochen war, und durch das nun jede Menge Wasser in die Grotte lief, war gut zwei Meter groß. Ideal für mich. Schnell tauchte ich auf.

Die Sache hatte zwei Haken. Was, wenn keine Zeit mehr blieb, und ich gegen die Strömung tauchen musste? Würde ich das schaffen? Oder wenn im Tunnel ein Stein mir den Weg zur anderen Seite versperrte? Oder wenn ich komplett falsch lag, und der Tunnel gar nicht in den Fluss führte, sondern endlos lang wäre? Oder wenn im Wasser mutierte Kreaturen warteten, die sich gerade berieten, auf welche Art und Weise sie mich töten würden? In allen Fällen würde ich nie wieder ans Freie können und ertrinken oder schon vorher sterben. Ehrlich gesagt waren da tausende Möglichkeiten, die schief gehen konnten, aber ich hatte keine Wahl. Diesmal nicht. Entweder handeln oder sterben. Und sterben hatte ich noch lange nicht vor.

Die Wellen schlugen mir ins Gesicht, und ich begann, tief Luft zu holen. Schnell schwamm ich zu der Stelle und tauchte unter. Da die Höhle jetzt vollständig von Wasser gefüllt war, hatte die Strömung nun endgültig nachgelassen. Mein Plan war aufgegangen, denn jetzt konnte ich ohne Gegendruck vorwärtsschwimmen. Das Wasser war eisig, da es ja von den Gletschern direkt in die Arena transportiert wurde. Hoffentlich hielt ich das durch. Mit kräftigen Stößen bewegte ich mich stetig vorwärts, immer im Dunkeln. Die Panik unter Wasser, die Angst, es nicht rechtzeitig schaffen zu können, machte sich in mir breit. Nicht dran denken, weiter! befahl ich mir. Der Tunnel unter Wasser wurde immer dunkler, ich konnte nicht einmal die Hand vor Augen sehen.

Da! Endlich! Etwa fünfzehn Schwimmzüge noch von mir entfernt glitzerte es. Das Licht stammte von Sonnenstrahlen, die die Wasseroberfläche durchbrachen. Zwei Mal kraulte ich das letzte Stück durchs Eiswasser, und tauchte ins Freie. Als sich meine brennenden Lungen wieder mit Sauerstoff füllten, wusste ich, dass ich es geschafft hatte.

Endlich konnte ich wieder den Himmel sehen. Ein kalter Wind fegte die Blätter am Ufer ins Wasser, der Fluss hatte sich in einen reißenden, wilden Strom verwandelt. Hier spürte ich die Strömung mit voller Wucht. Sie schleuderte mich herum, tauchte mich unter und stieß mich wieder nach oben, so schnell und konturenlos, das ich meine Umgebung völlig veränderte und ich nichts mehr erkannte. Irgendwann schaffte ich es aber mit meiner ganzen Überlebenskraft an der Oberfläche zu bleiben. Ich wurde nicht mehr nach unten getaucht, es schien, als hätte sich der Fluss endlich beruhigt. Nein, die Spielmacher fanden, dass ich vorerst genug hatte. Oder Jack hatte sie gebeten, mich am Leben zu lassen, wo ich es doch geschafft hatte, aus der Höhle zu kommen. Garantiert nahm ganz Panem an, ich würde jämmerlich ertrinken, als das Wasser in die Höhle kam. Aber ich konnte ihnen das Gegenteil beweisen.

Endless Hope ~ Die 36. ArenaspieleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt