Teil 46

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"Endstation. Bitte alle Passagiere aussteigen", die Stimme einer sehr unecht klingenden Frau riss mich aus meinem Schlaf. Ich war schon wieder eingeschlafen?
"Wir sind da", sagte die alte Frau lächelnd und ich sah um mich. Es wurde allmählich schon wieder hell, hatte ich die ganze Fahrt über geschlafen? Panik stieg in mir auf, war ich überhaupt bei der richtigen Station?
"Bitte steigen Sie jetzt aus", ertönte wieder die Stimme aus dem Lautsprecher und ich sprang sofort auf, hielt dann aber doch noch kurz inne und drehte mich zu der Frau um.
"Danke, für alles." Ich wartete keine Antwort ab und eilte weiter. Als mein Fuß den harten Asphalt berührte, stockte mir für einen kurzen Moment der Atem. Hier hatte alles angefangen, hier war ich mit Jack zum ersten Mal zusammen in einen Zug gestiegen, hier begann unsere Reise, unser ganz persönliches Abenteuer. Meine Beine trieben mich weiter voran durch die Eingangshalle und dann hätte ich den Weg auch mit verbundenen Augen gefunden. Ich rannte an dem Park vorbei, in dem wir uns immer getroffen hatten und schwor mir, hier wieder her zu kommen. Ich rannte auf das weiße Gebäude zu, in dem du dich befinden solltest und kurz vor dem Ziel verlangsamte ich meine Schritte. Ich hatte immer noch nicht verstanden, was passiert war, mein Gehirn war einfach nicht in der Lage, alles zu verarbeiten.

Ich trat die wenigen Treppenstufen hinauf und kam in eine Art Empfangsbereich, wo ich sofort auf eine Frau am Computer zuging.
"Wir haben noch gar nicht offiziell geöff-", bei meinem Anblick verstummte sie augenblicklich. "Wie kann ich dir denn helfen?" Ich öffnete den Mund, aber es kam nichts heraus, mir schwirrten so viele Worte und Sätze im Kopf herum, aber irgendwie gab nichts mehr davon Sinn, sodass mir Tränen in die Augen traten und ich unwillkürlich zusammenzuckte. Ich stand wirklich hier in deiner Psychiatrie. Der Zug hatte mich auf direktem Weg und ohne große Umwege zu dir gebracht. Ich war wirklich einfach in den ICE gestiegen und jetzt war ich hier, und das alles nur wegen dir, Jack. "Kann ich dir helfen, ist alles in Ordnung?", fragte die Frau nochmal.
Ich schüttelte den Kopf: "Ich bin hier wegen Jack Kont, er ist einer ihrer Patienten."
"Jack Kont?", wiederholte sie und ich nickte wie wild.
Sie lächelte und deutete dann mit dem Kinn zu einer Sitzbank: "Am besten du nimmst nochmal kurz Platz und ich schaue, was ich für dich tun kann. Bist du verwandt mit ihm?"
Erneut schüttelte ich den Kopf: "Ich bin seine Freundin."
"Gut, setz dich noch für einen kurzen Moment auf die Bank da vorne." Am liebsten hätte ich sie angeschrien, dass ich jetzt sofort zu ihm musste, aber stattdessen tat ich einfach das, was sie von mir verlangte und nahm auf einem der Sitze Platz.

Es war die längste viertel Stunde in meinem Leben, ich schwöre, obwohl man Zeit nicht verlangsamen kann.

Mit ausdrucksloser Miene gab mir die Frau im weißen Oberteil mit einer Handbewegung zu verstehen, dass ich ihr folgen sollte und mein Herz schlug bis ins Ermessliche. Sie führte mich in eine Art Büro, wo allerdings nicht Jack, sondern ein anderer Mann auf mich wartete, der einem Arzt unglaublich ähnlich sah.
"Schließen Sie bitte die Türe", sagte er zu der Frau gewandt und sie verschwand ohne ein weiteres Wort. "Ich bin Psychologe und für dich Herr Weisert, wie heißt du?" Konnte er mir nicht einfach sagen, wo Jack war?
"Elli."
"Elli, du bist wegen Jack Kont hier, ist das richtig?" Ich nickte und mir lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. "Dann weißt du ja sicher auch, dass Jack ausgebrochen ist und sich auf der Flucht befand." Ich nickte, weil ich kein Wort hervorbrachte; wusste er etwa nicht, dass ich die ganze Zeit bei ihm gewesen war? "Er ist ein gefährlicher Mörder, Elli, wir mussten ihn umgehend hierher zurückbringen, das verstehst du doch, oder?" Nein, das tat ich nicht, aber dennoch nickte ich wie ferngesteuert. "Elli, es tut mir aufrichtig leid, aber Jack Kont ist vor wenigen Stunden gestorben, er ist an einer Schnittwunde im Unterarm verblutet."
Ich starrte den Mann vor mir an, ich starrte ihn einfach nur an.
Was hatte er gerade gesagt?
Ich hatte die Worte gehört, aber sie ergaben einfach keinen Sinn. Ich verstand die einzelnen Buchstaben, aber der Sinn blieb mir verschleiert.
"Elli?" Ich blinzelte nicht, ich saß einfach regungslos da. "Jack hat sich für den Freitod entschieden, wir konnten ihn nicht mehr retten."
In mir regte sich irgendetwas, irgendetwas hatte den Sinn hinter diesen Worten erkannt. Mir traten Tränen in die Augen und etwas schnürte mir die Kehle zu.
Dann fing ich an den Kopf zu schütteln: "Er ist nicht tot."
Herr Weisert lächelte traurig: "Doch, Elli, es tut mir leid."
Ich schüttelte den Kopf immer heftiger: "Nein, Sie lügen!"
"Elli, bitte, beruhige dich."

Etwas zerbrach in mir, nein, alles zerbrach. Stück für Stück zerbröckelte jede einzelne Faser meines Körpers. Ich schnappte nach Luft, aber es fühlte sich an, als würde ich ertrinken, als würde ich ersticken, obwohl hier genug Sauerstoff in der Luft war. Und ich falle, ich falle und falle und falle, aber der Aufprall kommt nicht, ich wünschte ich könnte ihn spüren, aber da war nichts, außer dem Fall, der alles mit sich nach unten riss. Ich spürte rein gar nichts, außer diesem dumpfen Pochen meines Herzens in meiner leeren Hülle.

Mein ganzer Körper begann zu zittern und ich atmete immer schneller, es wurde dunkel um mich herum, aber das war mir egal, ich starb gerade. Ich war gerade dabei wieder und wieder zu sterben.
"Elli!", schrie eine Stimme, die ich nicht zuordnen konnte, aber es war nicht deine Stimme, also interessierte es mich sowieso nicht, was sie zu sagen hatte. Der Schmerz riss ein Loch in mich und ich konnte nicht anders, als mich zu krümmen.

Jack, du hattest doch versprochen, mich nie zu verlassen und jetzt? Jetzt wird mir erzählt, dass du dich selbst umgebracht hast. Ich verstehe das nicht, du kannst doch nicht einfach so fort sein, Jack, ich meine, wir sind doch Elli und Jack, wir sind doch unzertrennlich, wir sind doch unsterblich, wir sind doch immer zu zweit, wir sind doch wie Tom und Jerry, wie Zigarette und Feuerzeug.

Einsam fällt Sterben leichterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt