Ernst

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Meredith

Kann man sich vom Verlust der Eltern erholen? Vielleicht. Ich weiß es nicht.

Auf jeden Fall heilt die Zeit keine Wunden. Dieser Spruch ist genauso dämlich, wie der, der besagt, dass es regnet, wenn man nicht auf isst.

Die Zeit mag deine Wunden verschließen, wie eine Naht. Aber wenn man nicht aufpasst, reißen die Verletzungen wieder auf.

Oder es ist wie ein gebrochener Arm, der bei schlechtem Wetter noch Jahre später wehtut. Nichts davon ist eine permanente Heilung. Nichts davon macht alles ungeschehen.

Genauso ist es mit der Zeit. Sie radiert die Erinnerungen an deine Eltern nicht aus deinem Gedächtnis und nimmt dir so den Schmerz. Nein. So läuft es nicht und ganz ehrlich an einigen Tagen wünschte ich, es wäre anders.

Manchmal ist es eben leichter den einfachen Weg zu wählen, sich seinem Schmerz nicht zu stellen.

Aber dann gibt es Tage, an denen man die Erinnerungen nicht missen will. So ist es bei mir. Ich möchte all das Gute nicht verlieren. Auch wenn Schmerz mit diesen Erinnerungen Hand in Hand geht, selbst dann möchte ich nicht vergessen.

"Komm wieder zu mir ins Auto, Baby", sagte Chase und ich ruckte mit dem Kopf zu ihm herum. Er lächelte mich schief an und schaute dann wieder auf die Straße. "Wenn du bei Gericht auch so zerstreut bist, dann tut mir das viele Geld deiner Mandanten leid."

"Ha. Ha. Du bist heute wieder so unfassbar witzig. Ich kann mich kaum auf meinem Sitz halten", witzelte ich und er knuffte mein Bein.
"Ich bin eben unwiderstehlich", sagte er und ich rollte mit den Augen.

"Eingebildet", schoss ich zurück.

"Selbstbewusst."

"Arrogant."

"Ach, komm. Halt den Mund", lachte er und ich zeigte ihm den Finger.

"Ach, sei doch nicht so bossy." Chase biss sich auf die Lippe und setzte den Blinker.

"Du liebst es doch." Ich seufzte. Ja, das tat ich.

Am Abend hechtete ich durch meine Wohnung und versuchte meine Ohrringe anzustecken, während ich meine High-Heels aus dem Regal zog. Ein ziemlich sinnloses Unterfangen, aber seltsamer Weise klappte es. Ich brach mir nicht mal einen Fingernagel ab. Was nebenbei gesagt, eine ziemliche Scheißaktion wäre, da ich mir die Nägel gerade erst hatte machen lassen.

Chase erschien im Türrahmen und band sich die Krawatte. Ich schluckte kurz, als ich den Blick über seinen Körper schweifen ließ. Gott, dieser Mann war dazu geboren worden, um Anzüge zu tragen. Wahrscheinlich kam er so schon auf die Welt. Er erwiderte stumm meinen Blick und seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, nach dem alle halbwegs normalen Frauen ihre Schlüpfer werfen würden. Ich biss mir auf die Lippe und sein Halblächeln verschwand.

"Baby, wenn du mich weiter so ansiehst, dann wird Genevieve ihren Geburtstag ohne uns feiern müssen", knurrte er und ich schnappte nach Luft. Upsi Pupsi.

"Ich...okay...Lass uns gehen", stammelte ich und er lachte tief und kehlig.

"Ich liebe es, wenn du rot wirst", sagte Chase und mir blieb das Herz stehen. Das war keine seltsame Äußerung gewesen. Aber das Wort Liebe ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich stolperte quasi darüber.

Ich kniff kurz die Augen zusammen und griff meine Tasche. Chase beäugte mich skeptisch, doch ich lächelte nur aufgesetzt. Von Liebe konnten wir noch nicht sprechen. Niemals. Ich wusste nicht mal, ob ich ihn als Person leiden konnte.

Lügnerin, schrie meine innere Stimme auf. Ja, in Ordnung. Ich mochte ihn. Sehr. Aber ob das auch auf ihn zutraf? Keine Ahnung.

"Können wir los?", fragte ich und er verengte die Augen. Was ging nur in seinem attraktiven Kopf vor?
Chase streckte mir seine Hand hin und ich nahm sie. Diesmal war das Lächeln auf meinem Gesicht echt.
Er erwiderte es und ich dachte nochmal darüber nach, ob wir wirklich zum Geburtstag seiner Schwester gehen sollten. Ich hatte so viele andere gute Ideen.

Wir fuhren runter in die Tiefgarage und ich zog meine Schlüssel aus meiner Clutch. Chase packte mein Handgelenk und ich wirbelte zu ihm herum. Na holla. Er musste mir meine Überraschung anmerken, denn er schloss meine Finger um die Schlüssel und küsste dann meinen Handrücken.

Heiliger Schokokuchen. Mir wurde sofort warm ums Herz und ich schaute ihn aus großen Augen an.

"Ich fahre", bestimmte er und ich entzog ihm seufzend meine Hand.

"Ach tust du das?", stichelte ich und er drückte mir einen Kuss auf die Stirn.

"Narürlich", meinte er, schloss sein Auto auf und öffnete die Beifahrertür für mich. Na dann.

Genevieve feierte ihren 33. Geburtstag in einem schicken Restaurant am Hafen. Tatsächlich war ich einige Male mit der Kanzlei hier gewesen und hatte es ziemlich toll gefunden.

Chase hatte eine Hand in mein Kreuz gelegt und drückte mich leicht vorwärts, als ich vor der Tür stehen blieb.

"Bist du dir sicher?", fragte ich ihn und ein unwohles Gefühl machte sich in mir breit. Was, wenn er es nicht ernst mit mir meinte? Ich könnte mich nie wieder bei den Sullivans blicken lassen. Sein Körper spannte sich an und er hob mit zwei Fingern mein Kinn an.

Der Ausdruck in seinen Augen raubte mir den Atem. Chase senkte den Kopf und kam so nahe, dass seine Lippen meine streiften, als er sprach.

"Du bist für mich keine kurze Affäre, Meredith. Ich möchte es mit dir versuchen. Aber das geht nicht, wenn nur ich so empfinde. Also frage ich dich: Möchtest du meine Freundin sein oder nicht?" In seiner Stimme lag etwas zartes, zerbrechliches und ich schloss den Abstand zwischen uns.

"Ja, dass möchte ich", sagte ich bestimmt und er strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. Mein Herz hämmerte glücklich gegen meinen Brustkorb und fast hätte ich vor Freude gequieckt. Aber nur fast.

"Na dann los", murmelte er und schlang einen Arm um meine Hüfte. Ich trug ein knielanges, dunkelblaues Cocktailkleid, das am Rücken einen tiefen Ausschnitt hatte. Chase machte mit dem Daumen kleine Kreisbewegungen auf meiner nackten Haut und sofort bekam ich eine Gänsehaut.

Er schob seinen Kopf an mein Ohr vor und ich spürte seinen heißen Atem. Wow, selbst Atmen war heiß an ihm.

"Du siehst unfassbar gut aus", flüsterte er und küsste die empfindliche Stelle unter meinem Ohr. Wenn er so weitermachte, würde ich vor Begehren verbrennen, ehe wir nur das Restaurant betreten hatten.

Verdammt, dachte ich und lächelte. Jetzt hatte ich wenigstens etwas, worauf ich mich später freuen konnte.

Don't be so bossyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt