Zart

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Meredith

Okay, ja vielleicht hatte ich mich zum Affen gemacht. Ja, vielleicht hatte ich meine Liebe für Mickey Mouse enthüllt, aber das war mir sowas von scheißegal. Mein dunkelstes Geheimnis kannte er ja nicht, nämlich, dass ich schon immer mal in einem Traumschloss wie Cinderella leben wollte.

Spaß beiseite: Das was ich mit Chase hatte, war neu und verletzlich. Vergleichbar mit einer zarten Pflanze. Diese Beziehung, wenn sie denn eine Beziehung war, brauchte Pflege und musste erst wachsen und stark werden.

Ich wandte den Kopf nach rechts und lächelte leise, als ich sah, dass Chase neben mir eingeschlafen war. Ich klappte mein wunderschön schnulziges und auch ein bisschen schmutziges Buch zu und legte es beiseite. Dann schloss ich vorsichtig den Laptop, der auf seinem Schoß ruhte und stellte ihn auf den Nachttisch.

Wer hätte das gedacht: Meredith Cross kümmerte sich um Chase Sullivan. Die Meredith Cross, die ihm vor ein paar Tagen noch in den Kaffee gespuckt hatte. Ich schmunzelte und löschte das Licht.

Ja, manchmal spielte das Leben verrückte Spiele mit dir. Aber manchmal muss das gar nichts schlechtes sein. Ich zog mir die Decke bis unter die Achseln und presste mich seitlich an seinen muskulösen Körper. Sofort glitt sein Arm um meine Schultern und zog mich praktisch halb auf seinen Bauch. Ich lächelte, falls ich vorher schon damit aufgehört hatte und atmete seinen Duft ein. Er war herb, männlich mit einer Note seines Rasierwassers und einfach... einfach Chase.

Ich wusste, dass er schlief und dennoch merkte ich, wie seine Finger langsam durch mein Haar fuhren. Dieses Gefühl hier mit ihm zu sein, ließ sich nicht in Worte fassen. Es war schlichtweg außergewöhnlich für mich. Nicht ganz neu, aber trotzdem außergewöhnlich.

Am Sonntag packte ich schweren Herzens meinen kleinen Koffer und setzte mich dann seufzend aufs Bett. Ich rieb mir die Stirn und blickte im Schlafzimmer umher. Da war die Kommode, die nicht ganz so ungenutzt war, wie man meinen könnte. Oder der Sessel in der Ecke: Ebenfalls nicht ganz jungfräulich. Ganz zu schweigen von seinem fabelhaften Bett. Herrgott ich würde sein Bett heiraten, wenn es ginge.

"Nein, Tyler. Verdammt! Das ist nicht in Ordnung", hörte ich Chase aufgebracht rufen. Ich runzelte die Stirn und ging kurzerhand zu seinem Büro. Er saß an einem Schreibtisch, hatte den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt und starrte zornig auf den Bildschirm seines Laptops. "Ach, komm mir doch nicht so! Wenn du inkompetent bist, sag es mir doch gleich!"

Ich räusperte mich. Das war ja nicht mit anzusehen. Chase blickte auf und seine Miene wurde etwas weicher. Danach richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Telefonat mit seinem Bruder. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete ihn, wie er wütend auf die Tastatur einhämmerte.

"Ich würde dich feuern, wenn ich könnte. Ich schwöre bei Gott, eines Tages werde ich es können. Und dann Gnade dir der Herr-", begann er eine erneute Schimpftirade und ich machte entschlossen einen Schritt vorwärts. Da hatte ich gedacht, dass ich seine Arschlochseite für 48 Stunden mal nicht würde ertragen müssen und dann das...

Ich riss Chase den Hörer aus der Hand und ignorierte seinen überraschten Blick.

"Und ich beende das Gespräch an dieser Stelle. Mach's gut, Ty", sagte ich schnell und legte dann auf. Chase starrte mich mittlerweile fassungslos an und erhob sich dann.

"Was fällt dir eigentlich ein?", knurrte er und mir fielen fast die Augen aus dem Kopf.

"Was fällt dir eigentlich ein mich an zu knurren, wie ein Höhlenmensch?", zischte ich und er stemmte die Hände in die schmalen Hüften.

"Höhlenmensch?" Oh oh.

"Du bist kein Höhlenmensch", meinte ich und als er selbstgefällig lächelte, schob ich hinter her:" Die halten nämlich was von Familie."

Er pustete verächtlich und kam mir näher. "Das geht dich einen verfickten Scheißdreck an!"

Ich zuckte zurück, als habe er mich geschlagen und fuhr mir schnell über die Stirn. Es war nicht der Wortlaut, der weh tat. Es war die Gewissheit, dass ich für ihn nicht mehr als nur eine Affäre war. Er schloss mich aus seinem Leben, seiner Familie aus.

"Okay, wenn du meinst", brachte ich hervor, doch er merkte nicht, dass er den Streit längst gewonnen hatte. Er legte noch nach.

"Was kann ich dafür, wenn du nicht weißt, was eine wirkliche Familie ist! Du hattest ja nie eine. Die paar Jahre, die deine Eltern lebten, ehe-" weiter kam er nicht, denn ich holte aus und klatschte ihm eine. So richtig.

Danach drehte ich mich um, packte meinen Koffer und stürmte aus der Wohnung. Ja, das hatte gesessen. Und zwar so richtig. Das war mein wunder Punkt. Meine Eltern waren meine Schwäche. Und wenn er jetzt noch wüsste, warum es so viel mehr wehtat, als der Verlust seines Vaters für ihn...

Ich schmiss den Koffer in den Kofferraum und stieg dann vorne ein. Fick dich, Chase!

Ohne Nachzudenken fuhr ich zum örtlichen Friedhof und kaufte an einem Stand daneben ein paar Blumen. Ich besuchte meine Eltern nicht oft, aber wenn ich es tat, dann konnte ich nicht anders, als dort zu sitzen und einfach einmal alles rauszulassen. Für gewöhnlich tat ich es allein. Wahrscheinlich, weil ich ein emotional verkorkster Mensch bin...

Es fällt mir schwer Gefühle offen zu zeigen. Ich weiß nicht warum, aber so ist es. Zum Grab meiner Eltern zu fahren ist für mich immer ein zweischneidiges Schwert: Auf der einen Seite fühle ich mich ihnen dort näher, auf der anderen Seite rede ich doch nur mit einem Grab. Meine Eltern sind schon längst nicht mehr hier.

Als ich um die letzte Ecke bog, atmete ich tief ein und trat dann bis zu ihrer Grabstelle vor. Sie war gepflegt. Auch wenn ich mich selten dazu durchringen konnte meinen Eltern einen Besuch abzustatten, so sorgte ich schon dafür, dass sich andere darum kümmerten. Es soll nicht herzlos klingen: Ganz im Gegenteil! Ich sorge mich darum und will, dass es hier wunderschön ist. So schön, wie ein Grab nun mal sein kann...

"Hi, Mum. Hi Daddy", sagte ich, stellte die Blumen ab und setzte mich auf die kleine Steinbank, die neben dem Grab stand. "Ich wünschte ihr wärt hier. Ich hab so viele Fragen und bräuchte dringend eure Antworten..."

Don't be so bossyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt