Kapitel 71

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Am nächsten Morgen war mein Ärger wie gewohnt schon fast wieder ganz verflogen. Die Probe verlief wie erwartet erträglich und alles klappte ganz vortrefflich. Wir hatten am Veranstaltungsort geprobt und der Ballsaal sah einfach unglaublich aus. Die Einrichtung war teuer, mit hohen Decken und ein wenig im Harry Potter Speisesaal Stil nur ohne die ganzen Tische mitten im Raum. Stattdessen hingen überall Lichterketten und eine riesige Glitzerdiskokugel reflektierte die Lichter in alle Richtungen. Echt super schön. Das Problem war nur, dass Robins Anwesenheit mich sofort wieder an meine Wut auf Lucas erinnerte. Das war gar nicht gut und ich musste mich richtig zusammenreißen um nicht wieder auszurasten und alle Türen zu knallen. Ohne die Musik hätte ich es nie hinbekommen. Doch ich schaffte es. Wieder daheim entschied ich meinen Frust durch eine Runde Joggen auszulassen.

Endlich wieder frei durchatmen können. Die Bewegung half mir besser beim Abregen als alles andere. Ich atmete tief ein. Sobald ich wieder Zuhause war würde ich mir eine Pizza bestellen, duschen gehen und dann ein bisschen Big Bang Theory schauen. Ja, das klang echt nach einem guten Plan. Motiviert von der tollen Aussicht auf einen Abend ganz nach meinen Vorstellungen beschleunigte ich. Ich bog in die Straße ein, welche auch zu meinem Ziel führte. Da entdeckte ich etwas. Was war das? Mein Herz setzte für eine Sekunde aus. OMG, da lag jemand neben seinem Motorrad auf der Straße und bewegte sich nicht! Ich sprintete hin. Ich musste nicht den Helm entfernen um zu wissen das es Lucas war. Er bewegte sich nicht. Hektisch kniete ich mich neben ihn und begann ihn zu schütteln: „Lucas? LUCAS!" Er reagierte nicht. „Nein, nein, NEIN!" Langsam begann ich zu hyperventilieren. Ich zwang mich tief Luft zu holen. Okay, Mara. Was haben wir in der Erste-Hilfe-Ausbildung gelernt? Erst mal Notruf absetzen. Zitternd zückte ich mein Handy und wählte den Notruf. Eine freundliche Frau versprach mir, dass der Krankenwagen sehr bald eintreffen würde und ich nur die Ruhe bewahren sollte. Nicht sehr hilfreich in einem solchen Moment. Was hatte ich noch gelernt? Ach ja genau, Helm absetzen. Es klappte eher schlecht als recht, was wohl noch immer an meinen zittrigen Händen lag. Er sah so unschuldig aus. Er war ganz blass und aus einer Wunde am Kopf tropfte etwas Blut. Mir lief eine Träne über die Wange, das ganze kam mir so unwirklich vor. Reiß dich endlich zusammen Mara! Du musst seine Atmung überprüfen, ermahnte mich meine innere Stimme. Scheiße! Ich hörte weder etwas, noch sah ich was oder spürte etwas. Ich musste ihn wiederbeleben und zwar sofort! Er durfte nicht sterben. Ich durfte ihn nicht verlieren! Okay, ganz ruhig Mara. 30 Mal Herzmassage. 1...2... ... 30. Jetzt Wiederbeatmen. Hektisch und unkontrolliert atmend strich ich meinen Zopf zurück und setzte meine Lippen auf die von Lucas. Sie waren unerwartet weich. Plötzlich wurde ich näher an den zuvor bewusstlosen Lucas gezogen und die doch eigentlich reglosen Lippen begannen sich zu bewegen. Erschrocken zuckte ich zusammen. Ich fuhr zurück. Meergrüne Augen strahlten mich an. Ich war irgendwie erleichtert: „Lucas." „Mara", hauchte er. Dann begriff ich was er getan hatte. Ob es Absicht gewesen war oder nicht, er hatte mir meinen ersten Kuss gestohlen. Daran konnte ich aber gerade nicht denken: „Du lebst!" Er lächelte leicht: „Natürlich lebe ich." Er wollte sich aufrichten, hielt aber mit schmerzverzerrtem Gesicht inne. „Deine Lippen scheinen magisch zu sein. Möchtest du es nicht noch einmal versuchen?", fragte er. Das Verlangen zwischen, sich wieder runter zu beugen und ihm eine zu Klatschen war gleich groß. Als er mich wieder zu sich zog und seine Lippen die meine berührten, war es als erwachten tausend Schmetterlinge in meinem Bauch, klingt Klischeemäßig war aber tatsächlich so. Deshalb siegte wohl auch das Verlangen ihm eine zu klatschen. Ich sprang auf: „Wie kannst du nur?" Er hielt sich das wahrscheinlich sowieso schon schmerzende Gesicht: „Du wolltest es doch auch, was also ist dein fucking Problem?!" In der Ferne hörte man bereits die Sirenen des Krankenwagens. Ich hatte keinen Grund mehr zu bleiben und sprintete so schnell ich konnte nach Hause.

Als ich die Einfahrt erreichte drosselte ich das Tempo. Verstört von dem gerade erlebten, trat ich gegen einen der Kiesel. Was war da gerade eben passiert? Ich hatte keine Ahnung. Ich ließ mich noch vor der Haustür erschöpft auf den Boden sinken. Eigentlich war es glasklar: Ich hatte Lucas geküsst. Das erste Mal konnte allerdings gar nicht zählen, schließlich hatte ich es getan um ihn zu retten und das zweite Mal... war es gegen meinen Willen gewesen. Naja, so ganz gegen meinen Willen war es auch nicht gewesen... Doch das schlimmste war, dass es mir gefallen hatte. Es hätte mir nicht gefallen dürfen, es dufte mir nicht gefallen! Ich mochte Lucas nicht und was noch viel wichtiger war ich war mit Joey zusammen. Lucas hat mir meinen ersten Kuss gestohlen, begriff ich erst jetzt die tatsächliche Tragweite seines Handelns. Ich hatte ihn mir immer für jemanden den ich wirklich liebte aufgehoben, für meinen ersten Freund, für einen romantischen Moment wie im Film und Lucas... er hatte mir das alles einfach genommen. Das war so unfair! Mein Leben lang hatte ich mir diesen Moment erträumt und jetzt... war er einfach weg! Und ER hatte ihn mir genommen. Ein Knirschen kündigte das Eintreffen eines Autos in der Einfahrt an. Wer konnte das denn sein? Ich blickte auf, meine Sicht war verschwommen. Verschwommen? Na super, jetzt heulte auch schon wegen ihm! Ich schniefte, als sich eine Hand auf meine Schulter legte. „Mara? Was ist passiert?" Louis. Tränenüberströmt sah ich zu ihm auf. Ich konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken: „Bisher... Bisher war alles so perfekt und jetzt ist alles kaputt!" Louis öffnete die Haustür und verschwand im Inneren des Anwesens. Musste tatsächlich sogar er mich im Stich lassen? Erneut begannen Tränen in Reißbächen mein Gesicht zu überfluten. Die Türe hinter mir öffnete und schloss sich wieder. Louis ließ sich neben mir auf den Boden sinken. Scheinbar hatte ihn das schlechte Gewissen nun doch übermannt. Er legte seinen Arm um mich. Schluchzend nahm ich die Umarmung an und drückt mich näher an ihn. Mit der anderen Hand hielt er mir ein Nutellaglas mit einem Löffel entgegen. Ungläubig sah ich an ihm aus, bevor ich es danken annahm. Er wusste eben doch genau was ich ihn solchen Momenten brauchte. Er drückte mir einen Kuss auf den Kopf: „Möchtest du darüber reden Schnappi?" Ja, das wollte ich. Doch konnte ich es auch? Mit ihm darüber reden? Joey war einer seiner besten Freunde... Er blickte missmutig nach vorne: „Wer auch immer dir das angetan hat, er wird es für immer bereuen!" Das brachte mich noch mehr zum Heulen. Louis blieb geduldig. Es schien mir als saßen wir Stunden draußen vor der Türe. Ich löffelte Nutella und er starrte missmutig nach vorne und rieb meinen Rücken. Irgendwann schaffte ich es dann tatsächlich mich zusammenzureißen: „Er ist im Krankenhaus." Er ließ die in ihm aufkommenden Fragen unausgesprochen und überließ es mir wie viel ich ihm erzählen wollte. Ich wich seinem fragenden Blick aus: „Lu... Lucas hatte einen Motorradunfall." Dann auf einmal begann alles aus mir herauszusprudeln: „Ich war Joggen und dann lag er da. Er war bewusstlos. Ich wusste nicht was ich tun sollte. Ich hatte so Angst. Ich habe einen Krankenwagen gerufen. Aber er hat nicht geatmet ich musste etwas tun, ich konnte ihn ja da nicht einfach liegen lassen. Also habe ich mit der Herzmassage begonnen und als ich ihn wiederbeatmen wollte ist er einfach aufgewacht und hat mich geküsst und es hat sich gut angefühlt." In seiner Stimme lag kein Vorwurf, verurteilte mich nicht: „Was hast du dann getan?" Meine Worte überschlugen sich fast: „Ich weiß nicht... Ich habe ihm eine gescheuert und bin abgehauen. Ich wusste nicht was ich tun sollte und ich habe mich doch gestern so mit ihm gestritten und ich bin doch mit Joey zusammen. Ich hätte ihn dort nicht alleine liegen lassen dürfen oder? Er war doch verletzt und vermutlich nicht ganz bei Sinnen, das ist alles meine Schuld. Ich habe alles falsch gemacht!" Louis zog mich etwas näher an sich und erklärte beruhigend: „Du hast gar nichts falsch gemacht. Niemand hätte gewusst, wie er oder sie in dieser Situation richtig hätte handeln sollen." Ich schluchzte noch immer: „Ich möchte morgen nicht auf diesen verdammten Ball." Er drückte mich ein wenig fester und drückte mir erneut einen Kuss auf die Stirn: „Du wirst tun was du für richtig hältst und es wird das richtige sein."

I'm your Robin HoodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt