12 - Ein stiller Krieg

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Innerlich leer saß Cress auf dem Fensterbrett, von dem aus sie die Kinder gesehen hatte. Die Mauer ragte hinter der Kiesebene auf, schnitt durch die Landschaft wie eine Welle aus Beton.

Auf den Bildschirmen über dem zu allen Zeiten verschlossenen Tor flackerte noch das königliche Wappen, eine elegante, stilisierte marineblaue Krone auf hellblauem Hintergrund.

Sie spielten die Hymne der Alessandrini Dynastie, so laut, dass Cress Zähne und die Glassplitter um sie herum vibrierten. Sie hätte einfach im RedLipRoulette bleiben und die Hinrichtung dort sehen können. Oder sie hätte sich in einer Ecke zusammenrollen und darauf warten können, dass es alles vorbei war. Doch auf eine verdrehte Weise fühlte Cress sich, als wäre sie es Owen schuldig, seiner Exekution beizuwohnen. Da sie nicht wollte, dass die Clubs sie weinen sahen, war sie an die Mauer gekommen.

Sie schlang die Arme um sich, während der eiskalte Wind ihr Schauer über den Rücken jagte, die sie gar nicht richtig wahrnahm. Ihre Gedanken wanderten weit weg von der Mauer, zurück in ein Lokal mit der geborstenen Glaskuppel.

Zu dem Moment, in dem der Cyborg nach ihrem Arm gegriffen hatte.

Sie hatte eine der Scherben eingesteckt, die sie jetzt aus der Tasche zog, aus dem Stofftuch auswickelte und durch ihre Finger tanzen ließ.

Rotes, getrocknetes Blut an der Spitze. Menschliches Blut.

Sie war oft genug von Kopf bis Fuß in die stinkende, wasserähnliche Flüssigkeit getaucht gewesen, die durch die Adern und Schläuche im Körper eines Cyborgs floss, um den Unterschied zu erkennen.

Die Diebin lehne den Kopf zurück, schloss die Augen und rieb sich über die Schläfen.

Egal wie oft sie es alles durchging, sie verstand es einfach nicht.

Dieser Cyborg, dieser Mann, war anders gewesen.

Da war kein Wahnsinn in den wasserhellen Augen, trotz der Chemikalien, die sicher in seinem Körper wüteten.

Er hatte nicht in blindem Hass alles Lebende in seiner Reichweite umgebracht. Er hatte in der gleichen Farbe geblutet wie sie.

Was war das für eine Kreatur gewesen?

Und wieso hatte sie von ihr abgelassen?

Cress drehte ihr Handgelenk nach außen und musterte das Tattoo, das sich dort dunkelblau von ihrer hellen Haut abhob, wie von Papier. Die Umrisse eines Vogels im Flug mit nach links gedrehtem Kopf.

Sie fuhr nachdenklich mit dem Finger die Linie entlang.

Er hatte auf dieses Tattoo gestarrt.

Auf das Tattoo, das sie sich nie hatte stechen lassen.

Sie verstand es nicht.

Früher wäre sie jetzt wohl zu Owen gekommen, hätte sich zu ihm gesetzt und ihm diese Dinge erzählt.

Owen, der Seelsorger für die jungen Assassinen - und während ihrer Zeit bei der roten Mutter auch für sie - spielte. Sie hob bedrückt den Blick, als die Hymne verklang und seine Hinrichtung begann.

Die Kameras wurden auf das Gesicht des Königs gerichtet.

Miaserus Alessandrinis steinerne Züge flackerten über die Screens. Seine Stimme war wie Honig, der über Eis floss, als er begann:

"Bürger der letzten Stadt, ich richte mich an euch, die letzten Menschen unter dieser Sonne. Ihr wart alle Zeugen, wie das Farbsystem Frieden in unsere zerrüttete Gesellschaft brachte. Wie diejenigen, die ihre Farbe durch Verbrechen entehrten der Stadt verwiesen wurden und die Erlaubnis erhielten, in den Schatten weiterzuleben, unfähig dem blühenden Leben in dieser Stadt je wieder Schaden zuzufügen."

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