35 - Zerbrochene Puppe

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Ein Mädchen war mit dem Kopf auf dem Fensterbrett eingeschlafen. Ihre honigblonden dicken Haare, die wie ein Wasserfall über die Kante der Marmorplatte fielen waren das Einzige, was Cress erkennen konnte. Die Diebin klopfte an die Scheibe, woraufhin die Tänzerin hochschreckte und verwirrt blinzelte. Anstatt geschockt zu sein oder um Hilfe zu schreien, weil jemand auf ihrem Fensterbrett im vierten Stock saß, streckte sie nur die Hand aus und öffnete das Fenster. Sie hatte sie erwartet.

Nur ein paar Kilometer weiter war alles so anders, heiler, schöner. Die Menschen hatten die Erde so sehr nach ihrem Willen geformt, dass sie manchmal vergaßen, dass sie immer noch alle auf demselben Planeten lebten und mehr gemeinsam hatten, als sie unterschied.

Wen interessierten schon die Geisterbezirke, solange man ein sicheres Haus hatte, das einen mit einer Umarmung empfing?

Die Tänzerin bückte sich nach den Scherben ihrer Teetasse, die sie mit dem Ellenbogen vom Fensterbrett gestoßen hatte.

"Willst du dich nicht entschuldigen?", fragte sie, ohne die Diebin anzusehen. Wann hatte sie das letzte Mal jemand gefragt, ob sie sich für etwas entschuldigen wollte, anstatt mit erhobenen Fäusten auf sie zu gerannt zukommen? Die Gelbe richtete sich auf, wodurch Cress feststellte, dass sie fast doppelt so groß war, wie sie selbst. Cress kannte sie nicht. Sie hatte damit gerechnet, dass die Schaumeisterin jemanden schickte, den sie kannte.

Ihre Augen waren schmaler als Cress eigene, mandelförmig und tiefgolden. Federweiche, glatte Haut über feinen Zügen, groß und schlank gebaut wie eine Adlige. Sie wartete.

"Was hätte ich denn anderes tun sollen, als an die Scheibe klopfen?", fragte Cress langsam. Es gab wirklich wichtigere Dinge als diese zerbrochene Teetasse und den Teefleck auf dem Boden. Cress legte den Kopf schief.

"Du könntest dich trotzdem entschuldigen."

Ihre Stimme war leise, als ob sie nicht daran gewöhnt wäre, sie zu benutzen. Meinte sie das ernst? Federicy musste ihnen doch gesagt haben, wer und was Cress war.

Sie mussten wissen, dass Cress farblos war. Es gehörte zur Allgemeinbildung, dass man in den Außenbezirken andere Probleme als zersprungene Teetassen und Nettigkeiten hatte.

Die Tänzerin überlegte es sich anders und streckte Cress die Hand entgegen, die genauso gepflegt und schön war wie der Rest ihrer Erscheinung.

„Mein Name ist Rachelle."

Ein Name wie Sonnenschein und Blätterrauschen, typischer melodisch für eine Gelbe. Cress ergriff die Hand, wodurch sich die Tänzerin keine Sekunde beirren ließ.

„Willkommen im Haus der Künste, Khalida Waytar", sie deutete auf eine angrenzende Tür, „Ich muss dich bitten, dich zu waschen, bevor ich dich zur Schaumeisterin bringe. Es liegt ein Plastiksack für deine Kleidung bereit. Anpassung ist das, was du hier lernen willst, nicht wahr?"

Ihre Hand schwebte immer noch zwischen den beiden. Es kam nicht von ungefähr, dass man Cress diese Frau als Begrüßungskomitee geschickt hatte. Denn entweder hatte man ihr eine sehr gute Lüge darüber erzählt, wer die Diebin war, oder sie hatte kein Problem damit, eine berüchtigte Farblose zurechtzuweisen wie ein Kind. Langsam ergriff Cress ihre viel zu weiche Hand.

„Khalida Waytar", wiederholte die Diebin den falschen Namen, hauptsächlich, um sich die Aussprache vertraut zu machen.

Cress war wie vor den Kopf gestoßen.

Rachelle brachte sie in einen Raum voller duftendem Dampf, dessen Wände von Holzwannen voller heißem Wasser gesäumt wurden. Sie drückte der Diebin leichte, gelbe Kleidung in die Hände und verschwand zurück in den Vorraum.

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