70 - Prinz und Diebin

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Julian lehnte am Balkongeländer, als Cress zurückkam. Er rauchte nicht mehr. Sie wäre am liebsten wieder rückwärts zur Tür hinaus gegangen, aber früher oder später müsste sie sowieso wiederkommen. May konnte sie nicht durch ihre Anwesenheit in Gefahr bringen. Sie litt schon genug unter dem Verlust ihres Bruders.

„Ich habe mit May gesprochen", sagte Cress, verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete, wie er auf den Park hinunter starrte. Regungslos, wie eine Marmorstatue.

„Und? Was hast du ihr gesagt?", fragte er mit rauer Stimme, wahrscheinlich von den Zigarren der letzten Tage. Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Nicht so, wie sie es gerne hätte.

„Dass ich weiß, wie es ist, einen Bruder zu verlieren. Durch die Hand des Königs."

Er schwieg.

„Weißt du, was heute Nacht passiert ist?", fragte er sie. Cress bejahte leise.

Er ließ seinen Kopf in den Nacken rollen und starrte zum Himmel hinauf. Vereinzelte Wolken vor dem azurblau eines wunderschönen Tages. Vogelgezwitscher schien spöttisch zwischen den einzelnen Zeilen ihrer Unterhaltung widerzuklingen. Der Tod der Hohen hatte den gesamten Palast in Ausnahmezustand versetzt. Cress war keine Politikerin, doch es war klar, dass sich die Machtverhältnisse des Kernbezirks gefährlich verschoben hatten.

„Ich habe dir eine Geschichte zu dem Schwert versprochen."

Sie stutzte, als Julian sich umwandte. Er sah sie nicht an, hatte den Kopf gedreht und starrte immer noch in den Garten hinaus, bevor er sich vom Geländer abstieß und in den Raum trat.

„Ist das ein Versöhnungsangebot?", fragte sie misstrauisch und nicht dazu bereit, irgendein Versöhnungsangebot anzunehmen.

Er warf ihr einen schrägen Blick zu. „Nein."

„Was dann?"

Er zog das Schwert aus der schwankenden Trainingspuppe, bevor er sich dazu herabließ sie wieder anzusehen.

„Es ist besser du verlässt den Kern, bevor es richtig anfängt", murmelte Julian.

Cress verstand ihn kaum über das Knistern des Feuers im Kamin.

„Deine Schwester hat den Orden. Dein Vater den Rat. Deine Mutter wird vom gesamten roten Bezirk verehrt, weil sie jeden Zweiten dort fördert", stellte Cress fest, „Warum hat das niemand bemerkt?"

Das Schwert war viel zu klein für ihn. Viel zu dünn und leicht. Er drehte es durch die Finger.

„Oh, Rya Hora hat es bemerkt. Ich habe es bemerkt. Wir wissen nicht, wer die Strippen hinter allem zieht. Es steht allerdings fest, dass es sich um jemanden aus meiner Familie handelt."

„Absolute Diktatur", flüsterte sie.

Julian schnaubte. „Sie herrscht bereits. Eine mächtige Familie hält die geballte Macht über die Stadt in ihren Händen. Meine Familie."

Cress konnte hören, was er nicht aussprach. Wahrscheinlich würde etwas wie der Giftgasanschlag bald nicht mehr illegal sein.

Cress biss die Zähne zusammen, presste ihre Handfläche in den Samt der Couch.

„Man muss sie aufhalten."

Als es still blieb, sah sie zu ihm auf.

Er war immer wunderschön, vielleicht das schönste männliche Gesicht, dass sie je gesehen hatte. Doch hier, im Schein der Flammen, war er ein Gott.

In ihrer Brust zog sich etwas unangenehm zusammen.

„Ich kenne dich noch nicht lange, Julian d'Alessandrini-Casanera, und ich vertraue dir bei weitem nicht, aber ..."

SkythiefWo Geschichten leben. Entdecke jetzt