May hatte fliehen wollen. Nur für ein paar Momente in die wunderschöne, klare Welt der Zahlen verschwinden wollen, um dem Schmerz zu entkommen. Natürlich war es schief gegangen. Natürlich war sie geradewegs in die nächste Katastrophe gerannt.
Ungläubig starrte sie auf die Ziffernfolge, die sie auf den Block gekritzelt hatte.
Ihr Blick huschte zum Bildschirm, glich die Daten ab.
Noch einmal.
Und dann sprang sie auf und rannte.
Sie schlitterte um eine Ecke, krachte fast in einen Wachposten und verlor dadurch wertvolle Sekunden. Ihr Herz hämmerte in ihren Ohren.
In diesem Moment – in den nächsten zweieinhalb Minuten – hing die ganze Welt von ihr ab.
Angst.
Allumfassende Angst schoss durch ihre Venen, machte die Welt hell und scharf.
Sie konnte nicht denken.
Nicht fühlen.
Sie musste die Hohe finden.
Oder die Stadt würde zerbrechen.
Alles hatte ganz harmlos angefangen, als sie sich nachdem das Brautpaar seine eigene Hochzeit gesprengt hatte – May hatte keinen Zweifel daran, dass es Julians Idee gewesen war und Lady Ana mit größter Begeisterung mitgemacht hatte – mit einer uralten Rechnung beschäftigt hatte.
Um genau zu sein, ging es um die Daten, an denen die Hohen des letzten Jahrtausends unsterblich geworden und wann sie gestorben waren.
Das war eine der Besonderheiten des höchsten Postens im Orden: Unsterblichkeit.
Für genau hundert Jahre war die Hohe unsterblich, unantastbar von der Zeit.
Ein Geschenk der Sterne an ihre Vertreterin in der Welt.
Nach diesen hundert Jahren starb die Hohe.
Ohne Verletzungen, ohne einen medizinischen Grund, alterte sie plötzlich unglaublich schnell.
May stoppte abrupt vor einer Glastür, drückte ihre Hand auf das Plasma und zuckte zusammen, als sie sich in den Finger stach.
Hektisch zeichnete sie eine Linie vom Abendstern über die Mitte des Sternbilds Fassa, kreuzte das Rabenauge.
Die Tür schwang auf und für einen Sekundenbruchteil zögerte May.
Unter ihr blitzten die Lichter der Stadt, während sie dastand.
Ein Schluchzer kämpfte sich ihre Kehle hinauf und sie schlug sich die Hand vor den Mund, bevor sie über die Brücke stürmte.
Vor ihrem inneren Auge sah sie sich sekundenlang fallen.
Auf der kalten Erde aufschlagen.
Tot.
In dem Moment, in dem die Hohe starb, gab sie bekannt, wer ihre Nachfolgerin werden sollte.
Dieser Augenblick war entscheidend. Er war unglaublich wichtig.
Die Sterbende empfing eine Vision von den Sternen, die die neue Hohe auswählten.
May wollte ihre immer noch blutende Hand zur Tür auf der anderen Seite heben, als diese aufgerissen wurde.
Die Knochenschwestern.
Alcha stammelte nur ein „May?", da war diese schon vorbei gerauscht.
„Sie haben sich verrechnet. Sie. Haben. Sich. Verrechnet", murmelte sie vor sich hin.
Die drei Schwestern nahmen die Verfolgung auf, rannten in Stiefeln und Trainingskleidung hinter der Schülerin der Hohen her.
„Was ist passiert?"
Cheleste joggte neben May her.
Sorge stand in ihren skandalösen Augen.
„Die Hohe ... wo ist sie?", brüllte May.
Die Nocturna Schwestern zuckten nicht mit der Wimper.
Ihre identischen, weißen Zöpfe wippten hin und her.
„Im Park. Wir haben sie gesehen, als wir über den Wehrgang sind. Hatte mal wieder keine Wachen dabei. Ich wollte ihr Ivy nachschicken."
„Rennt zu ihr."
Die drei hatten die große Treppe erreicht.
May schleuderte ihre Schuhe die Treppe hinunter und rannte barfuß an zwei komplett verwirrten grünen Wachen vorbei hinaus in den Park.
Es regnete.
Wasser spritzte um die schweren Stiefel der Nocturna Schwestern und Mays Füße wurden eiskalt, als sie über den perfekt gestutzten Rasen rannten.
„Bei den Brunnen."
Cheleste war wieder neben May, deren Lunge jetzt brannte, als ob sie Säure atmen würde und nicht die saubere Nachtluft.
„Was ist passiert?"
Die hohen, glitzernden Fontänen der Wasserspiele kamen in Sicht.
Eine hoch aufgerichtete, blau gekleidete Gestalt neben einer noch Größeren in violett.
Sie standen direkt vor dem Springbrunnen.
„Renn. Vor. Du musst ..."
In dem Moment, in dem die große Uhr im Haus der Künste, Julians Taschenuhr und die Uhr im Ballsaal, Mitternacht schlugen, fiel die Hohe auf die Knie.
Dieser Wimpernschlag in der Geschichte der Stadt zerbrach das Gleichgewicht.
May schrie in blankem Entsetzen auf.
Sie kam zu spät.
Die Knochenschwestern zogen an ihr vorbei, teilten sich auf.
Endlich verstanden sie es.
Während Cheleste mit weit aufgerissenen Augen auf die Hohe zu rannte, schwärmten Alcha und Coria aus, um Hilfe zu holen.
Doch es gab jetzt keine Hilfe mehr. Mays nackte Füße klatschten auf den Rasen.
Kälte.
Sie blieb wie angewurzelt stehen, als sie sah, wer da neben der Hohen im Wasser kniete und weinend eine Hand auf ihre Brust drückte.
Dominique Alessandrini hob ihr tränennasses Antlitz zu May, die neben der Hohen auf die Knie fiel und ihr blasses Gesicht in die Hände nahm.
May sah die Tochter des Königs nicht an.
Sie hatte nur Augen für die tote Frau vor sich.
Die weißen Augen, die zu den Sternen hinauf starrten.
Der Schock auf ihrem immer noch fast übernatürlich schönen, innerhalb der letzten Tage so schnell gealterten Gesicht.
Wie sie nicht blinzelte, als ihr ein Regentropfen ins Auge fiel.
Das durfte nicht wahr sein.
Das konnte nicht wahr sein.
Rya Hora war tot.
Zwei Tage zu früh.
Wegen einem Rechenfehler, den die Mathematiker des Ordens in all den Jahren nicht bemerkt hatten.
„Was ist nur geschehen", May kniete immer noch mitten im Wasserspiel.
Die Tochter des Alessandrini Königs schluchzte so dramatisch auf, dass May zu ihr aufsah, während Cheleste die Hohe aus dem Wasser zog. Unbeschreibliches Glück lag auf den Zügen der Prinzessin der letzten Stadt, als sie stammelte:
„Ich bin die Erwählte. Die Sterne haben meinen Namen genannt."
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Skythief
Science Fiction~ ✨ ~ Eine Vogelfreie mit der Stimme eines Engels. Ein Kronprinz, der Intrigen zu einer Kunstform erhoben hat. Eine Ordensdame, die zur Beleidigung für ihre Götter wird. Alle verstrickt in dasselbe große Geheimnis. • In einer düsteren Zukunft ist v...