48 - Schattengeschäfte

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Die nächsten Tage waren ein einziger Kampf.

May kämpfte an drei Fronten, um ihre persönlichen Kriege zu gewinnen.

Tagsüber war sie bei allen offiziellen Treffen, den Prozessen und ihren regulären Unterrichtsstunden anzutreffen, nachts versuchte sie entweder die Codes von Julians Skizzen und ihrem eigenen Handgelenk zu knacken oder traf sich mit Rya, um entweder unter den Sternen oder in einem der Trainingsräume Mays neu erwachte Gabe kennenzulernen.

Sie weckten das mächtige Ding, das so lange in ihr geschlafen hatte, nach und nach auf.

May erzählte der Hohen nicht von der Gestalt auf den Rängen, sie war sich inzwischen selbst nicht mehr sicher, ob sie sich nicht von ihren in diesem Moment kollabierenden Sinnen täuschen hatte lassen.

Das Training, die Übungen, waren hart genug, um sie alles andere vergessen zu lassen.

Mays Mutter, die beste Ärztin des hohen Ordens, war eingeweiht, sie heilte jeden Schnitt, jeden angeknacksten Knochen und schlug sich wie May und die Hohe die Nächte um die Ohren. Denn die Zeit lief ihnen allen davon.

Hundert Jahre und keine Sekunde länger lebte die Hohe. Und der Tag, an dem Rya sterben würde, rückte mit jedem Atemzug näher.

May sah innerhalb der nächsten Tage, wie ihre Kräfte schwanden. Wie sie alterte.

Rya hatte höchstens wie Mitte dreißig ausgesehen, aber jetzt hätte man sie gut auf Ende fünfzig geschätzt.

Die Silbernacht kam unaufhaltsam näher und die Schönheit der Hohen verblasste wie eine Rosenblüte im Winter. Aber weder das stählerne Funkeln in ihren Augen, noch die Verbissenheit, mit der sie May trainierte, verblasste.

Es war gefährlich.

Und May zog sich mehr und mehr in sich selbst zurück, was aber nur ihrem Bruder auffiel. Und der sagte nichts, warf ihr nur ab und zu lange, leere Blicke zu.

Jeden Morgen, wenn sie mit zermürbendem Muskelkater aufwachte, war sie kurz davor das zarte Lügenkonstrukt in sich zusammenfallen zu lassen.

Aber sie tat es nicht, sondern stand wieder auf.

Denn sie bezweifelte stark, dass sie noch lange leben würde, wenn die falschen Menschen von ihrer Gabe hörten.

Julian d'Alessandrini-Casanera hielt für eine Weile die Finger still, aber früher als es May lieb war, hatte er sie in eine halsbrecherische Aktion mithineingezogen. Sie schlief noch weniger, weil sie alle Vorbereitungen treffen musste und auch sonst kaum ein Auge zu bekam vor Angst. In der entscheidenden Nacht schlich sie sich seinetwegen aus dem Turm, der in der Nacht ziemlich beängstigend war.

Die Caz Kristalle glommen sanft und in dem düsteren Zwielicht, das die Gänge erfüllte, geisterten die Damen des Ordens durch den Turm.

Leise wie Schatten, mit über die Schultern wallenden Haaren und geschlossenen Augen.

May gab sich Mühe, keine von Ihnen zu berühren und verschwand in den Dienstbotengängen.

Im Turm gab es keine Kameras. Die Caz Kristalle waren eine Art Direktinformationsleitung an die Hohe. Mays Verbindung zu den Steinen war noch nicht so ausgeprägt wie Ryas, weswegen sie nicht jeden Schritt im Turm fühlen und jedes Wort hören konnte. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie das war.

May war im Moment nur eine von vielen leisen, langsamen Gestalten auf den Gängen.

Sie erreichte die Dienstbotengänge, stieg weiter und weiter hinunter und suchte nach der Markierung, die sie als Anhaltspunkt bekommen hatte.

Der Laptop unter ihrem Arm war noch warm.

Stundenlang hatte sie versucht an die Pläne zu kommen, die aber schlicht und einfach nicht zu existieren schienen.

Erst vor zehn Minuten hatte sie es geschafft, weil sie aus Verzweiflung Miaserus Passwort rückwärts eingegeben hatte und sich diese Zahlen und Buchstabenabfolge als Zugangsschlüssel für Hochsicherheitsdaten entpuppte. May war mehr als zufrieden mit sich selbst.

Der winzige, angedeutete Vogel, den jemand mit Kreide auf den Stein gemalt hatte, klappte nach hinten weg, als sie dagegen klopfte.

Ein Auge in der Farbe von Fuchsfell erschien in dem Spalt, verschwand wieder.

Einen Moment lang passierte nichts, dann schwang ungefähr zehn Meter weiter den Gang hinunter eine Tür auf.

Plasma schimmerte hauchdünn auf ihr und hatte das Holz bis gerade wie glatten, grauen Stein aussehen lassen. Ricks Werk

May hatte kein gutes Gefühl beider Sache.

Hinter der manipulierten Tür erwartete sie Schwärze.

Es roch nach Schimmel und Feuchtigkeit.

Ein Licht flammte auf, als die Tür hinter ihr zufiel.

May lief ein Schauder über den Rücken, aber sie riss sich zusammen und folgte Rick, der sie wortlos hinter sich herwinkte.

„Was ist das hier?"

„Schon mal was von Katakomben gehört?"

May hob eine Augenbraue.

„Wenn jemand stirbt wird er verbrannt. Schon seit Jahrhunderten."

Rick wandte sich nicht um, als er auf das Wasser hinunter leuchtete, das träge gegen den moosbewachsenen Stein schwappte.

Asche.

Mays Magen verkrampfte sich, während Rick in die Finsternis der Wellen starrte.

„Dieser Ort ist so alt, dass selbst der Orden ihn vergessen hat. Wir sind weit unter dem Turm."

Sein ernster Blick wanderte zu ihr zurück.

„Und anscheinend wollte der Kronprinz eine Armee aus Toten, um unser Treffen zu bewachen."

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