80 - Nebel

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Sie hatte nichts mehr für ihn tun können. Cress versuchte gar nicht erst, ihn wiederzubeleben. Es hatte keinen Sinn. Denn Mattia hatte die volle Wucht der Attacke getroffen, während sie durch seinen Körper geschützt worden war. Viel länger, als klug gewesen wäre, kniete sie neben ihm. Irgendwann begann sie zu singen.

So leise, dass sie deswegen niemand finden würde. Doch sie sang für Mattia, wie sie vor Jahren für Sam und Sagasha gesungen hatte. Wie sie für den Schatzmeister singen musste, wenn sie nicht sterben wollte. Irgendwann stand Cress auf, zog Julians Jacke noch einmal aus. Glas, Holz und Betonsplitter spickten den Rücken. Jeder einzelne davon wäre in ihrem Fleisch gelandet, wenn sie ungeschützt gewesen wäre. Cress schlüpfte aus ihrem Oberteil und riss es kleiner, um den Verband besser zu machen, bevor sie den Reisverschluss der Armeejacke wieder schloss. Sie wünschte sich, dass deren Besitzer jetzt an ihrer Seite wäre.

Der Sturm riss ihr die Haare aus dem Gesicht, als sie ins Freie trat. Bevor die Diebin auf die Straße hinaus ging, humpelnd und zunehmend schwindelig, sah sie sich um.

Cress Cye, der ehemalige Schatten des Kreuzbuben, war nun Freiwild. Wehrlos, bis auf die Metallstange, die sie irgendwann auf ihrem Weg aufgehoben hatte. Sie konnte die Mauer immer noch in der Ferne zwischen den Wolkenkratzern sehen. Graffiti überzogen die Betonwände, gesprüht von besonders mutigen Farblosen in besonders dunklen Nächten.

Es stank schon hier schrecklich.

Moder, Müll, Ratten und schlimmere Dinge.

Dunklere Dinge.

Der Wind roch nach dem farblosen Bezirk, so schneidend, als gäbe es einen eigenen Gestank für Hoffnungslosigkeit und Wut.

Cress sammelte sich einen Moment lange und stapfte dann über die löchrige Straße noch tiefer in die Dunkelheit des gefährlichsten Bezirks der Stadt und damit in ihre Heimat hinein.

Es fühlte sich nicht an, wie ein Heimkommen.

Cress hatte das Gefühl, dass die Wolkenkratzer noch ausgemergelter und größer, deren Schatten noch dunkler geworden waren.

Hier glitzerte und funkelten die Wände nicht, wie im blauen Palast. Harter, angelaufener Beton ersetzte den Perlmutt.

Sie suchte sich ihren Weg am Boden, weil die Drahtseile bei so einem Unwetter viel zu gefährlich wären.

Donner krachte über ihrem Kopf, aber noch regnete es nicht.

Sie hatte sich verboten, an ihn zu denken. Daran, dass er kalt und leblos auf einem Dach lag. Daran, dass er es nicht verdient hatte, zu sterben. Vor allem nicht für jemanden, wie sie.

Cress war schuld, dass die Adligen ihn umgebracht hatten.

Wenn sie ihn einfach in Ruhe gelassen hätte, wäre das alles nie passiert.

Denn anscheinend war es tödlich, ihr nah zu sein. Für ihren Bruder. Für Sagasha. Für Mattia.

Sie war Gift. Am besten sollte se sich von allen Menschen fernhalten.

Aber daran dachte sie nicht, als sie durch den Farblosen Bezirk stolperte. Es kam nur auf den nächsten Schritt an, darauf, den Schatzmeister zu finden, bevor dieser starb.

Darauf, zu überleben, obwohl man lieber sterben wollte.

Das Quartier der Gilde lag weit entfernt von der Grenze zum braunen Bezirk, weswegen Cress nur hoffen konnte, dass sie nicht zu spät kommen würde. Sie würde es erfahren, wenn es so wäre, da sie in diesem Fall sterben würde. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sterben.

Sie war dem Tod so nahe gewesen, dass sie sich, wenn überhaupt in einer Sache sicher sein konnte: sie hatte kein erhöhtes Bedürfnis danach, in nächster Zeit zu sterben.

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