16 - Versagen

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May folgte der Hohen durch die langen Korridore des blauen Palastes, bis sie den Übergang zu den Türmen des Ordens erreichten. Von diesem Raum aus hatte man bei Tageslicht fast wie im Thronsaal eine atemberaubende Aussicht durch die hohen, altmodischen Spitzbogenfenster.

May schauderte.

Sie befanden sich so hoch über dem Boden, liefen auf einer seltsamen Konstruktion aus Stein, Glas und Eisen und verließen sich darauf, dass das Gebäude, das man zum Kern der Stadt erklärt hatte, sie hielt und vor dem Sturz in die Tiefe bewahrte.

Die hohen Flügeltüren, hinter denen sich die Brücke zu den Türmen erstreckte, luminiszierten bläulich. Immer wieder liefen Energieschauer über das Plasma und ließen kaltes Licht über den Raum und die Gesichter der hohen Damen tanzen. Sternbilder waren in das Tor einprogrammiert worden, die sich hell von der Dunkelheit draußen abhoben.
Die Hohe trat vor. Sie streckte die Hand aus und ließ ihre Finger über das kalte Material gleiten.
Die Tore schwangen auf und May holte tief Luft, um ihre Panik zu unterdrücken. Nicht einmal der König konnte so eine Angst in ihr hervorrufen wie das, was jetzt vor ihr lag.

Nur eine Brücke aus Caz Kristall hielt sie davon ab, in den Abgrund zu stürzen, der sich unter ihnen auftat. Die Hohe schien das nicht zu kümmern. Sie schritt mit klackernden Absätzen hinaus ins Nichts.

Der Bogen aus Plasma, der sich über ihren Köpfen spannte, ließ geisterhafte Schatten und blaues Licht über Mays Körper fließen. Er war so programmiert worden, dass man ihn sogar bei einem Sturm, der ganze Hausdächer mit sich riss, überqueren könnte. Sie plante nicht das irgendwann auszuprobieren - ganz im Gegensatz zu den Knochenschwestern, die in stürmischen Nächten gerne hier Karten spielten.
Sie konnte die drei förmlich hinter sich spüren, leise wie der Tod selbst.

Die Brücke war neutrales Gebiet. Weder der König noch der hohe Orden der edlen Dämmerung hatte hier Macht, weswegen sehr heikle Verhandlungen in kleiner Besetzung gerne hier, hoch über der letzten Stadt, durchgeführt wurden. May spürte jeden ihrer Schritte überdeutlich. Ihr gesamter Körper war ihr selten so gegenwärtig wie jetzt. Nur ein halber Zentimeter Plasma und Glas trennte sie vom freien Fall. Als sie endlich vor den Toren zu den Türmen standen, hätte May vor Erleichterung zusammenbrechen können.

Erneut öffnete das Blut der Hohen ihnen den Weg.

In dieser Stadt konnte so ziemlich alles lügen, doch Blut ließ keinen Betrug zu, niemals.

Auf der anderen Seite der Brücke war das Licht, das über ihre Gestalten strich, sanft, weiß und sauber, nicht mehr eisig blau.

May stieß den Atem aus, als die Zwillingstore, die auf der Seite des Ordens aus Caz Kristall geformt worden waren, hinter ihr ins Schloss fielen.

Für einen Moment schloss sie die Augen, um ihr pochendes Herz zu beruhigen. Als sie sie wieder öffnete, stellte sie fest, dass die Hohe sie anfunkelte, gefährlich, aber wieder einigermaßen beherrscht.

„Die Welt bricht um dich herum zusammen und du fängst wegen der Höhe an zu zittern", knurrte sie.

May biss sich auf die Lippe, musterte für einen Moment ihre Schuhspitzen und machte sich auf das Donnerwetter gefasst, das jetzt über sie hereinbrechen würde.

Die Hohe drückte die Schultern durch und warf einen so vernichtenden Blick zu ihrer Assistentin hinauf, dass diese schützend die Arme vor der Brust verschränkte.

"Würdest du mir jetzt bitte erklären, wie es innerhalb von zwei Tagen, in denen ich dir die Verantwortung überlassen habe, zu so einer Katastrophe kommen kann?! Du wirst den Orden in der Übergangsphase leiten, May. Wie soll das funktionieren?"

Jedes Wort war eine sorgfältig geschliffene Glasscherbe, wie sie auch der König zu spüren bekommen hatte. Die Hohe stemmte die Hände nicht in die Seite, bewegte sich überhaupt nicht, machte May allein durch die heiße Wut ihrer schneehellen Blicke nieder.

"Es tut mir leid."

Die jüngere der beiden Frauen sah zu Boden, während die Schamesröte über ihr Gesicht kroch.

"Sieh mich an und sprich deutlich", befahl Rya ungehalten.

May hob den Blick und sah ihrer Mentorin in die Augen.

Trotz regte sich in ihr.

"Ich habe nicht davon erfahren, bis es vorbei war. Es tut mir leid und ich wünschte ich könnte es rückgängig machen", war aber alles, was sie herausbrachte.

Im Kiefer der Hohen zuckte ein Muskel.

"Keine Entschuldigung wird dich davor bewahren, die Konsequenzen für dein Verhalten zu tragen", stellte die Hohe schroff klar. May streckte das Kinn vor, zwang sich, ihrer Vorgesetzten in die Augen zu sehen. Sie hasste es, Dinge falsch zu machen und fühlte sich schwach, weil sie deswegen die Tränen zurückbeißen musste.

Doch die Hohe war noch nicht am Ende ihrer Rede angelangt. "Ich werde deine Mutter informieren", kündigte Rya an.

May wollte protestieren, atmete aber nur tief durch. Ihre Mutter würde völlig außer sich sein. Wenn der Rest des Ordens von dieser unerhörten Angelegenheit erfuhr, würden sie alle völlig außer sich sein. Es war ein Wunder, dass May ihre Stelle noch nicht verloren hatte. Das Gesicht der Hohen wurde minimal sanfter, als ob ein Hauch von Mitleid darüber gehuscht wäre.

"May, du gehörst einer der Gründerfamilien des Ordens an. Die Wurzeln deiner Familie reichen bis vor die Gründung der Stadt selbst zurück. Im Interesse deiner Familie, des geSamten Ordens, darf dir so etwas niemals wieder passieren", tadelte die weiße Wölfin, „Unsere heilige Aufgabe ist es, im Namen der Sterne über diese Stadt zu wachen. Du hast einen Moment zu lange weggesehen, was noch nicht abschätzbare Konsequenzen nach sich zieht", sie nahm sich die Zeit, den Kopf zu schütteln, „Alles, was ab jetzt passiert, May, ist deine Schuld."

Rya Hora wandte sich ab und schritt davon, flankiert von zwei gelbäugigen Dienerinnen, die sich aus den Schatten lösten.

Hinter May atmete jemand aus.

May warf einen Blick auf das Band aus Caz Kristall, das sich weiß wie Sternenlicht um ihr Handgelenk schlang und das elegante Ziffernblatt einer Uhr umfasste. Sie wandte sich zu den Drillingen um.

"Oh Hilfe", war alles, was sie sagte.


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