85 - Auf der Kippe

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Wir werden sie nie finden.

Julian war kurz davor wahnsinnig zu werden.

Wegen seiner Eltern, wegen seiner Schwester und wegen der Tatsache, dass er Cress einfach hatte gehen lassen.

Sie war tot, sie musste tot sein und das war seine Schuld.

Schuldig bis in die Fingerspitzen.

May hatte sich eine der Kameras gesucht, irgendetwas davon abgelesen und wankte jetzt wieder auf ihn zu, den Blick auf ihren Laptop gerichtet. Lukas stützte sie.

„Ich brauche gut zwei Stunden, um alle Kameras im Farblosen Bezirk durchzugehen."

Die steile Falte auf Julians Stirn wurde noch tiefer.

„Das dauert zu lange."

Sie sah auf.

„Schneller geht es nicht. Außerdem ..." Sie brach ab.

„Was?"

Ihr Mund zuckte bitter.

„Außerdem haben die Toten alle Zeit der Welt."

Julian hob das Kinn.

Einen Moment lang hätte er sie gerne geschlagen.

Sie starrte ihn herausfordernd an, sagte nichts, sondern wartete darauf, dass er die Hand hob.

Und sich daran erinnerte, dass sie ihn gerettet hatte.

Seit die beiden sich das letzte Mal so gegenübergestanden hatten, hatte sie sich stark verändert.

Bei den Sternen, sie hatte gezittert vor Angst, als er sie auf dem Schachbrett im Park konfrontiert hatte.

Jetzt konnte sie ihn richtig ansehen, ohne rot zu werden.

Dafür war sie nun blass wie eine Leiche, die Augen viel zu unruhig.

Er wandte den Blick ab, ließ ihn über die winzige Gruppe von Menschen schweifen, die mit ihm hier waren. Lukas, drei andere Soldaten und May.

Zu wenige.

Aber jeder begegnete ihm mit abwartendem Blick.

Er wusste, dass jeder seiner Männer für ihn sterben würde.

Und May ... ohne May wäre er nie hier gelandet.

Sie atmete ein, ihre Augen huschten genau wie seine eigenen über die Runde der Versammelten.

„Ich habe das mehrmals im Auftrag der Hohen getan, um dich zu finden, wenn du ihnen entwischt bist. Und ich habe dich jedes Mal gefunden. Wir haben eine Chance."

Ihre Stimme zitterte.

Einen Moment lang musterten sich die beiden.

Der Sohn des toten Königs und die Schülerin der toten Hohen.

Wer hätte gedacht, dass sie eines Tages hier stehen würden.

Julian nickte.

Er zwang sich zur Ruhe, zumindest äußerlich.

„Ich werde sie suchen gehen."

May wollte ihm widersprechen, das sah er in ihrer Haltung.

Aber er würde hier nicht herumsitzen, während sie die Kameras durchging.

„Das Pilotenheadset aus dem Jet. Damit können wir uns verständigen, oder nicht?"

„Theoretisch", entgegnete sie missbilligend.

SkythiefWo Geschichten leben. Entdecke jetzt