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Ein wenig überrascht stehe ich vor dem Spiegel und schaue mich selbst an. Zumindest die Spiegelung dessen, was ich zu sein scheine.

Mein Gesicht ist blass, allerdings zeichnen sich um meine blattgrünen Augen tiefe dunkle Ringe ab. Außerdem sind sie stark gerötet. Dieser Kontrast wirkt gespenstisch und ich bin ein wenig erschrocken von mir selbst.

Nach kurzer Überlegung nehme ich eine heiße Dusche, die sich gut anfühlt. Die Salzwasserkristalle werden sowohl von meiner Haut, als auch aus meinen Haaren gewaschen. Mein Gesicht bekommt durch die Wärme wieder ein wenig Farbe und die letzten Reste meiner Tränen fließen mit dem Wasser durch den Abfluss.

Zufrieden betrete ich wenig später das italienische Restaurant, das sich auf dem Schiff befindet und als einziges geöffnet hat. Überraschenderweise ist es sehr voll. Es scheint, als haben sich alle übrig gebliebenen Passagiere hier versammelt.

Sie reden und schwatzen miteinander, der ein oder andere immer noch mit einem traurigen Ausdruck im Gesicht. Es dauert eine Weile, bis ich bemerke, dass sie essen.

Bei dem Gedanken an Essen fühle ich nichts. Ich weiß zwar nicht, wie lange ich geschlafen und nichts gegessen habe, allerdings regt sich in mir weder Hunger noch Appetit.

Unschlüssig stehe ich da und weiß nicht so recht, was ich tun soll. Genau genommen hatte ich überhaupt nicht nachgedacht und war einfach nach oben gegangen.

Als ich mich abwenden und wieder in der Kabine verschwinden will, taucht Thiemo neben mir auf. "Da bist du ja", sagt er nur und lächelt. Vorsichtig lächle ich zurück.

"Essen?", fragt er doch ich schüttle den Kopf. "Dann sehen wir uns nachher auf dem Deck." Ohne auf meine Einwilligung zu warten geht er davon. Da ich ihm nicht hinterher rennen will, seufze ich bloß und begebe mich anschließend aufs Sonnendeck.

Gedankenverloren setze ich mich in eine der Liegen und frage mich, was ich hier tue. Meine Familie ist weg. Spurlos verschwunden. Ich mochte bereits alt genug sein, trotzdem wusste ich, dass es eine enorme Umstellung werden würde.

Fragen tauchen in meinem Kopf auf. Hatten meine Freunde es überlebt? Waren ihre Familien auch verschwunden? Was wäre, wenn sie alle verschwunden waren? Dann hätte ich niemanden mehr.

Es schüttelt mich bei den Gedanken und ich verbanne sie aus meinem Kopf. Ich muss daran glauben, dass sie noch da sind.

Es dauert eine ganze Weile, bis Thiemo auftaucht. Unterdessen strahlt die Sonne auf mich und ich überlege, mir etwas Sonnencreme zu holen.

Er setzt sich neben mich und schweigt. "Ich will sterben", teile ich ihm mit und schaue hoch zum Himmel. Kleine weiße Wölkchen tummeln sich dort.

"Das bringt auch niemanden etwas", behauptet er, doch ich widerspreche ihm. "Es würde mir selbst etwas bringen, da ich diesen Verlust nicht mehr mit mir herumschleppe. Und dir auch, weil du dich nicht mehr um mich kümmern müsstest."

Bei meinen Worten zuckt er merklich zusammen und schaut mich böse an. "Ich hab dir gesagt, dass du so etwas nie wieder sagen sollst!", zischt er. Seine Augen funkeln zornig und ich bekomme ein schlechtes Gewissen.

Entschuldigen will ich mich dennoch nicht, denn dafür ist meine Laune in diesem Moment zu schlecht. Stur wende ich meinen Blick zum Meer und betrachte den Ozean, in dem ich gestern noch geschwommen war. Es wäre sehr viel einfacher gewesen, wenn man mich nicht gefunden hätte und ich ertrunken wäre.

Als hätte er meine Gedanken gelesen steht Thiemo auf und stellt sich mit verschränkten Armen vor mich. "Ich versuche dir zu helfen, aber wenn du mich abblockst, funktioniert das nicht."

"Du kennst mich gar nicht", entgegne ich emotionslos. "Nein Claire. Das tue ich wirklich nicht. Aber ich würde dich verdammt gerne kennenlernen, wenn du es einfach zulassen würdest."

Wütend blickt er mich an und schließlich gebe ich nach. "Lass mich nur wenigstens heute noch in Selbstmitleid baden. Manchmal brauch ich das."

Resigniert lässt Thiemo sich zurück in seine Liegen sinken und ich höre ihn seufzen. Seine Wut scheint wie verpufft. "Mach bloß keine Dummheiten", sagt er.

"Ich pass auf", verspreche ich ihm. Schweigend liegen wir so nebeneinander und ich überlege, ob es eine Möglichkeit gibt, schnell und schmerzlos zu sterben. Gleichzeitig weiß ich, dass das nicht der richtige Weg.

Ich vergesse fast, dass Thiemo neben mir liegt. Er verhält sich still und bleibt mit geschlossenen Augen liegen. Ich vermute, dass er schläft.

Pausenlos denke ich an meine Familie und Freunde. Mir schießt ein Gedanke durch den Kopf und ich wundere mich, dass er mir nicht schon vorher gekommen ist.

"Weißt du, ob man hier Empfang hat?", frage ich aufgeregt. Lange erhalte ich keine Antwort und will schon aufspringen und mein Handy suchen, da Thiemo wahrscheinlich schläft, als ich seine Stimme vernehme.

"Das war eine unser ersten Ideen. Doch es ist niemand zu erreichen, nicht einmal per Funk. Yanik und ich sind mit die ersten Erwachten gewesen. Der Kapitän hat alles versucht."

Fassungslos lasse ich mich in meine Liege zurückfallen. "Das ist nicht dein Ernst!", stöhne ich frustriert. "Und wer ist Yanik?"

"Der Typ, der mir geholfen hat, dich aus dem Meer zu holen."

"Ah", mache ich und vergrabe meine Finger in meinen Haaren. Als ich sie wieder sinken lasse, fallen mir hellbraune Strähnen ins Gesicht. Entschlossen schiebe ich sie nach hinten.

Mit einem Mal scheint es, als würde mein Blickfeld sich nicht nur von meinen Haaren klären, sondern auch der nebelige Schleier der Trauer, der vor meinen Augen gehangen hat, verschwindet.

Ich sehe über das Deck des Schiffes hinaus das glitzernde blaue Meer, von dem einen nur die weiße Reling trennt. Hier oben auf dem Sonnendeck ist der Rand lediglich von kleinen Holzpfosten, zwischen denen Seite gespannt sind, abgetrennt.

Der Holzboden unter mir knarzt leise, als ich mich in meiner Liege aufrichte und zu Thiemo rüber lehne. Das blau-weiß gestreifte Tuch unter ihm passt zu seinen Khakishorts und dem weißen T-Shirt. Er blinzelt, als mein Schatten auf ihn fällt und schaut mich überrascht und fragend an.

"Genug in Selbstmitleid gebadet. Lass uns was machen, sonst werde ich hier bekloppt. Ich hab schon Kopfschmerzen!"

Ein Lächeln bildet sich bei meinen Worten auf seinem Gesicht und er richtet sich langsam auf, sodass er mir direkt in die Augen sehen kann. Sie erinnern mich immer noch Schokolade und allein dieser Gedanke beruhigt mich.

"Was möchtest du denn machen?", fragt er und schaut mich herausfordernd an. "Nun ja, das Schiff hat ja einiges zu bieten" meine ich und überlege.

Was hatte ich vorher am liebsten gemacht? Ich erinnerte mich, dass mein Bruder den Pool immer wahnsinnig toll gefunden hatte, doch der war mehr etwas für kleine Kinder und genau das war er mit seinen zehn Jahren auch noch.

Mein Vater hingegen hatte immer besonders viel Spaß beim Pokern gehabt. Er hatte nie mit echtem Geld, sondern immer nur Chips gespielt. Meine Mutter hingegen hatte sich am liebsten gesonnt, während mein Bruder geplanscht hatte.

Doch keine dieser Optionen schien in Frage zu kommen.

"Wir können ja auch Fangen in den Gängen spielen. Jetzt sind immerhin kaum noch Menschen da, die sich darüber beschweren können", schlage ich scherzhaft vor und Thiemo lacht.

"Lass mich dir zwei Leute vorstellen und dann überlegen wir noch einmal, okay?"

Als ich nicke steht er auf und ich folge ihm die Treppe vom Sonnendeck herunter auf das Deck mit den Pools und anschließend eine weitere Etage hinunter zu dem Deck mit dem Restaurant. Dort laufen wir eine ganze Weile herum und er sieht sich immer wieder suchend um.

Wir treffen auf Yanik und begrüßen uns. Nicht weit von uns entfernt führt eine Tür in den gläsernen Speisesaal. Diese geht mit Schwung auf und ein Mädchen tritt heraus. Sie lächelt und winkt uns und die Jungs erwidern ihre Geste, doch ich kann sie nur wortlos anstarren.

Ungläubig klebt mein Blick an ihr, während mir nur ein Gedanke durch den Kopf schießt: "Das. Kann. Nicht. Sein!"

Als ich im Jahr 2974 erwachteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt