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Ich schlage die Augen auf. Blinzle.

Mein Körper scheint zu schweben und um mich herum ist alles in ein klares Blau getaucht.

"Wo bin ich?", denke ich.

Kleine Bläschen steigen neben mir auf und verlieren sich in dem Leuchten, welches sich ein Stück weit entfernt über meinem Kopf ausbreitet.

Für einen kleinen Moment schwebe ich noch vollkommen ruhig in dieser blauen Masse. Um mich herum ist alles so still.

Auf meinem Brustkorb breitet sich ein leichter Druck aus. Er schnürt meinen Hals zu und ich wünsche mir etwas Sauerstoff.

Sauerstoff!

Mit einem Mal erwache ich aus meiner Starre und wie von selbst bewegen sich meine Arme und Beine, sodass ich auf das Leuchten zu schwimme.

Mein Kopf durchbricht dieses und eine kühle Brise streift meine Wangen. Ich schnappe nach Luft und strample, um mich über Wasser zu halten.

Nach einigen Atemzügen hat sich der Druck von meiner Lunge gelöst und ich kann wieder normal atmen.

Währenddessen blinzle ich gegen die Sonne und versuche etwas zu erkennen.

Die Sonne strahlt in ihrer ganzen Prachtvom Himmel. Links und rechts von mir breitet sich der Ozean aus, der in den Sonnenstrahlen so unschuldig glitzert.

Und vor mir befindet sich das Schiff.

In dem Moment kommen die Erinnerungen wieder.

Ich erinnere mich an mein Telefonat mit Opa. Wie ich ihn Mama gegeben und schließlich Papa weitergereicht hatte. Die Schwärze hatte bereits das halbe Schiff verschlungen, als die Verbindung abbrach und ich Papa verzweifelt "Dad? Hallo?", fragen hörte.

Sie war hinter mir gewesen, hatte meine Mutter und meinen Bruder verschlungen.

Ich erinnere mich, wie ich gerannt und über Bord gesprungen war. Ich hatte im Wasser sterben wollen.

Rasch schwimme ich näher an das Schiff heran, das ruhig im Wasser liegt. Nichts regt sich. Wellen schlagen sanft gegen den Bug des Schiffes.

"Hallo?", schreie ich. "Ist da jemand?"

Kein Laut dringt zu mir durch. "Ich bin hier unten!", rufe ich.

Auch wenn das Wasser angenehm warm ist, werde ich nicht ewig hier bleiben können. Irgendwann wird meine Kraft nachlassen. An Haie oder ähnliches mag ich gar nicht denken.

"Ich brauche Hilfe!", brülle ich wieder. Auch dieses Mal scheint es, als habe mich niemand gehört.

Ratlos treibe ich im Wasser. Selbst wenn ich mich über Wasser halten könnte, würde ich irgendwann hungrig und durstig werden. Ich merke jetzt schon, dass meine Kehle etwas trocken ist.

Ich lasse mich auf dem Rücken treiben und starre in den Himmel. Mein Kleid klebt an meinem Körper, wo er aus dem Wasser schaut.

"Hallo? Können Sie mich hören?", vernehme ich eine Stimme und ruckartig öffne ich die Augen und erwache aus meiner Starre.

Auf dem Schiff steht ein junger Mann. Sein blondes Haar leuchtet in den Sonnenstrahlen.

Ich winke ihm hektisch zu und er ruft etwas. Eine zweite Person taucht auf und sie werfen kurz darauf eine Art Strickleiter hinab.

Ich ergreife das Ende und klettere hinauf. Das Wasser rinnt an mir herunter und mein Kleid klebt mehr denn je an mir.

Oben packen mich die zwei an den Armen und ziehen mich über die Reling. "Danke", lächle ich.

"Bist du verletzt?", fragt mich der Blonde, doch ich schüttle den Kopf. Mir wird ein Handtuch gereicht und ich nehme meinen zweiten Retter in Augenschein.

Er ist recht groß und hat dunkles Haar, das ihm in die Augen hängt. Er lächelt mich an und ich lächle zurück, während ich mich in das Handtuch wickle.

Hier oben weht eine etwas stärkere Brise und mit meinem nassen Kleid bin ich froh über das Handtuch.

Dennoch ist es still. Außer uns dreien ist niemand hier.

"Wo sind die anderen Passagiere?", frage ich. Die beiden jungen Männer schauen sich an.

"Einige sind in einer Art Schlummermodus und wachen gerade auf. Aber ein paar...naja, die sind verschwunden", erklärt der Blonde.

Erschrocken und ungläubig schaue ich sie an. Einige waren einfach verschwunden? Wie konnte das sein? Und was war überhaupt passiert? Ich konnte mich nur noch an die Schwärze erinnern, die auf mich zugekommen war.

"Komm mit und schau selbst nach. Es ist sowieso besser, wenn wir uns alle treffen", sagt der Braunhaarige und ich folge ihnen ins Innere des Schiffes.

Wir kommen in den großen Bühnenraum, in dem sich einige Menschen versammelt haben. Manche sitzen wie weggetreten auf Stühlen, andere trinken gierig etwas Wasser.

Ich suche die Menschen eifrig nach meiner Familie ab, doch ich kann weder meinen Bruder, noch meine Mutter oder meinen Vater entdecken. Ratlos und ein wenig hilflos stehe ich in das Handtuch gewickelt zwischen meinen beiden Rettern.

Als ich gerade fragen will, ob sie meine Familie vielleicht gesehen haben, betritt ein Mann die Bühne, den ich als den Kapitän identifiziere. Sofort verstummt das leise Gemurmel, das zuvor geherrscht hatte.

Wie gebannt schauen alle zu dem Kapitän. Dieser lächelt einmal in die Runde. "Sind das alle?", fragt er einige Leute und richtet seinen Blick unteranderem auf die beiden jungen Männer neben mir.

"Aye, Kapitän!", ruft der Dunkelhaarige und der Blonde ergänzt: "Außer diesem Mädchen war niemand an Deck zu finden. Wir haben sie aus dem Wasser gefischt."

Alle Augenpaare richten sich auf mich und starren mich an. Ich fühle mich beobachtet und werde ein wenig unruhig.

"Sehr gut, dann sind alle hier versammelt. Wie mir berichtet wurde, sind wir auf ungefähr 300 Passagiere geschrumpft. Die restlichen sind verschwunden, ebenso ein großer Teil meiner Crew."

Stimmen werden laut, viele hysterisch und ängstlich. Stühle werden gerückt, als einzelne Personen aufstehen und nach ihren Freunden und der Familie suchen. Auch ich schaue mich nervös um. Wo sind sie nur?

Der Kapitän bittet um Ruhe und langsam beruhigt sich die Stimmung ein wenig. "Viele von Ihnen werden sich bestimmt Sorgen machen: zu Recht! Aber versuchen Sie bitte, nicht zu sehr in Panik zu verfallen. Bisher wissen wir nicht genau, was passiert ist. Des Weiteren bekommen wir momentan noch keine Verbindung zu irgendjemanden. Auch das ist bisher kein Grund zur Panik. Wir haben noch viele Lebensmittel an Bord und zwei der Köche werden Ihnen in den nächsten Stunden eine Mahlzeit zubereiten. Sie dürfen ihnen gerne behilflich sein."

Der Kapitän verabschiedet sich mit einem Gruß und verschwindet Richtung Steuer, um mit seinen Leuten das Schiff genauer zu untersuchen.

Ein paar Menschen fangen an zu weinen. Verzweifelt schaue ich hin und her, strecke meinen Hals und suche den Raum ab. Doch nirgends kann ich meine Familie entdecken.

"Seid ihr sicher, dass alle übrig Gebliebenen hier sind?", frage ich mit erstickter Stimme. Mitleidig sieht der junge Mann mit den blonden Haaren mich an. "Ja, tut mir Leid", antwortet er.

Ich will das nicht wahrhaben. Das kann doch nicht sein. Mit einer Mischung aus Überraschung, Unglauben und Trauer starre ich ihn an, immer noch in das Handtuch gewickelt. Doch das Zittern meines Körpers kommt nicht von der Kälte des nassen Kleides an mir. Ich breche zusammen und falle auf die Knie. Das kann nicht sein, das darf nicht sein.

Schluchzend bemerke ich, wie mich jemand in den Arm nimmt, doch ich weiß nicht, wer von den beiden es ist. In dem Moment ist es mir jedoch auch egal. Es kann und darf nicht sein. Was sollte ich denn jetzt ohne meine Familie machen? Ohne meine Eltern und sogar ohne meinen kleinen Bruder?

Heiße Tränen tropfen von meinen Wangen und ich schniefe. In mir brechen alle Dämme und ich fühle mich, als würde ich von innen heraus sterben. Ich schreie, doch der Schrei ist leise und kaum zu hören.

Warum habe nur ich überlebt? Warum hatte es mich nicht auch einfach mitgenommen? In den Tod oder wohin auch immer.

Als ich im Jahr 2974 erwachteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt