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Ein wenig perplex schaue ich die Flasche vor mir an, bevor ich meinen Blick nach links wende. Thiemo grinst mich an. Um uns herum sind lauter erwartungsvolle Gesichter, die darauf warten, dass ich zu ihm gehe.

Doch ich zögere. Schräg neben mir sehe ich Lias Gesicht. Wie sie mich belustigt mustert und gleichzeitig nachdenklich anblickt.

"Es ist ihr Bruder. Das ist doch mehr als nur weird", denke ich und spüre so etwas wie Panik in mir aufkeimen. Woher kommen diese Gedanken?

"Wird das heute noch was?", fragt jemand und lacht. Ich versuche gleichmäßig zu atmen und merke, dass meine Hände zittern.

Bevor ich groß weiter drüber nachdenke, nehme ich mein Glas und halte es Louis auffordernd hin, immer noch den Blick auf Thiemo gerichtet. Seine Miene bleibt gleich und ich kann nicht erkennen, wie seine Meinung dazu ist.

Einzelne Mauler werden um mich herum laut. Obwohl sie mich nur necken, fühle ich mich wie ein Verräter.

Mein Glas wird schwerer, als Louis mir den Alkohol hineinfüllt und ich wende mein Gesicht dorthin, um nichts zu verschütten. Meine Hände zittern immer noch ein wenig, doch ich schaffe es, das Glas an meine Lippen anzusetzen und den Inhalt hinunter zu kippen.

"Der nächste macht einem Partner seiner Wahl einen Heiratsantrag", sage ich und drehe die Flasche. Sie hält bei Yanik. Er schaut sich um und verzieht das Gesicht, als würde ihm die Wahl schwer fallen.

Schließlich seufzt er und bittet Lia aufzustehen. Sie erhebt sich und er kniet sich hin. Thiemo prustet los, bevor er den ersten Satz gesagt hat.

"Lia mein Schatz, willst du mich heiraten?", fragt er mit übertrieben piepsiger Stimme und einem gefälschten Enthusiasmus. Lia fasst presst ihre Hände an die Stelle, wo ihr Herz ist und seufzt theatralisch auf. "Ich dachte schon, du fragst mich nie!"

"Und hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau. Sie dürfen die Braut jetzt küssen!", brüllt Lilliana dazwischen. Sie werfen sich einen Blick zu und Yanik beugt sich herab und gibt Lia ein Küsschen auf die Wange. Blitzschnell, sodass es kaum zu sehen ist.

Thiemo japst neben ihnen nach Luft und rollt sich über den Boden. Er lacht und lacht, als wolle er gar nicht mehr aufhören. "Wenn unsere Eltern das sehen könnten", keucht er und wischt sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln.

Einen kurzen Moment frage ich mich, was er damit meint, doch dann geht das Spiel auch schon weiter. Manche denken sich sehr skurrile Sachen aus, andere stellen ernst gemeinte Fragen.

Ann erzählt, dass sie Angst vor Katzen hat und Lilliana und ich führen einen Regentanz auf. Dabei torkeln wir ein bisschen und fliegen beinahe auf den Boden, denn im Laufe der Zeit hat sich die Menge der Shots angesammelt.

Kichernd und albern giggelnd stützen wir uns aneinander ab. "Die nächste Person küsst die, die ihr am nächsten ist", schreit Lilliana und tritt mit dem Fuß gegen die Flasche.

Dabei verliert sie ein bisschen das Gleichgewicht und wir torkeln Arm in Arm nach hinten. Wir sind betrunken. "Wie kommt es, dass ich innerhalb so weniger Zeit so bedenkenlos Alkohol konsumiere?", frage ich mich in einem kurzen klaren Moment, doch dann verschwindet die Frage auch schon wieder.

"Claire!", rufen alle und ich kehre zum Spiel zurück. Die Flasche zeigt auf Lilliana und mich, doch scheinbar haben alle anderen entschieden, dass sie auf mich zeigt.

Ohne zu zögern drehe ich mich zu Lilliana um und drücke meine Lippen auf ihre. In mir kribbelt es vor lauter Aufregung, denn ich kann mich nicht dran erinnern, jemals ein Mädchen richtig geküsst zu haben.

Der Alkohol sorgt für eine Art Nebel in meinem Kopf. Ich sehe nicht mehr, als alles, was wenige Centimeter vor mir ist. Alles andere ist undeutlich, verschwommen und grau.

Doch für den Kuss muss ich nichts sehen. Ich fühle ihn nur, spüre ihre Zunge und schmecke sie. Einzelne Jubel- und Anfeuerungsrufe ertönen. Wir lösen uns voneinander und ich schaue zu dem Rest. Sie lachen, kreischen und johlen.

Doch eine Person verhält sich still. Sie sitzt da, schaut mich ruhig an und scheint alles andere als begeistert. Allerdings ich kann nicht erkennen, wer genau es ist. Ich mache einen Schritt auf sie zu, um ihr ins Gesicht schauen zu können, doch dabei stolpert Lilliana und wir fallen mit einem Aufschrei zu Boden.

Als ich mich aufrapple, kann ich nicht einmal vermuten, wer es gewesen ist.

~~~

Stöhend drehe ich mich auf den Rücken und versuche durch die winzigen Spalten meiner Augenlider etwas zu erkennen.

Es dauert jedoch noch eine ganze Weile, bis ich merke, dass ich mich scheinbar wieder in der Kabine befinde.

Meine Erinnerung ist ein schwarzes Loch. Dunkel wie es ist scheint es meine Gedanken aufzufressen und hinterlässt nichts als Leere.

Mühsam stütze ich mich an der Bettkante ab und komme langsam auf die Beine. Ich schleppe mich zum Bad und hocke mich auf den Boden, da meine Beine nicht gewillt scheinen, mich länger als nötig aufrecht zu halten.

Ich erreiche mit meiner Hand so gerade eben den Wasserregler und drehe ihn an.

Das Wasser plätschert auf mich herab und rüttelt meinen müden Kopf etwas wach.

Mit den Fingern reibe ich an meiner Schläfe und verdamme gleichzeitig meine Kopfschmerzen. Sie pochen hinter meiner Stirn und lassen mich diese vor Schmerz kräuseln.

Langsam lasse ich meinen Kopf nach unten hängen und lege meine Hände in meinen Schoß. Der Stoff meiner Hose klebt auf der Haut.

"Ich bin so blöd!", murmle ich und seufze. "Wie kann ich denn vergessen, mich vor dem Duschen auszuziehen?"

Ärgerlich befreie ich mich von meinen Anziehsachen und pfeffere sie wutentbrannt in die Ecke. Es klatscht, doch sie bleiben dort reglos liegen.

Stumm starre ich sie an, wippe dabei mit meinem Oberkörper vor und zurück. Das kühle Wasser beruhigt mich mit der Zeit und scheint meinen Körper wieder etwas lebhafter zu machen.

Ich schaffe es, mich einzuseifen und schließlich sogar aufzurichten. Nach und nach kehren die Erinnerungen zurück. Das Spiel, der Alkohol, der Tanz, der Kuss, der Sturz.

Wir hatten uns gegenseitig aufgeholfen und waren schließlich davon getorkelt. Thiemo hat mich vor der Kabine gefunden, als ich schon halb geschlafen habe. Er musste mich ins Bett gebracht haben. "Doch wo ist er jetzt?"

Da mein Kopf jedoch trotz der Dusche immer noch dröhnt, beschließe ich, es gut sein zu lassen.

Ich verbringe den restlichen Tag im Bett und zwischenzeitlich auf dem Balkon. Glücklicherweise muss ich mich nicht übergeben, auch wenn mir zweimal der restliche Mageninhalt schon die Kehle hochkommt.

Mein Sichtfeld wird von Stunde zu Stunde wieder klarer. Die verschwommenen Ränder wandern weiter nach außen und werden schärfer, bis sie schließlich ganz verschwinden.

Ich trinke viel Wasser aus dem Kran und schlafe erneut mehrere Stunden. Am späten Abend spüre ich das Grummeln meines Magens und während ich noch überlege, ob ich fit genug fürs Abendessen bin, geht wie zur Bestätigung die Tür auf und Thiemo erscheint.

"Danke", sage ich, bevor er überhaupt richtig eingetreten ist.

"Geht's dir besser?", fragt er mit einem schiefen Grinsen auf den Lippen und ich nicke.

Er hockt sich zu mir und schaut immer noch grinsend auf mich herunter.

"Du machst Sachen. Wie steht's mit Essen? Du solltest schon was zu dir nehmen, dein Körper könnte es brauchen. Lilliana geht's übrigens nicht viel besser."

"Essen klingt eigentlich ganz gut", antworte ich, unterstützt von einem kräftigen Knurren meines Magens. Thiemo lacht auf.

"Wo warst du den ganzen Tag?"

Sein Lachen erlischt und macht wieder seiner ernsten Miene Platz. "Beim Kapitän."

"Ist alles okay? Sind wir bald in Spanien?"

Seine Stirn kräuselt sich und er zögert mit der Antwort. "Wir sind fast an der afrikanischen Nordküste."

Als ich im Jahr 2974 erwachteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt