⊶36⊷

2.3K 397 107
                                    

Taehyung Pov

Ich weiß auch ohne ihn zu fragen, dass das nicht Jungkook ist und dieses mal sind es nicht hauptsächlich seine, Augen die mir das verraten. Jungkook hat immerhin nicht das starke Verlangen sich umzubringen, das hat unter den Persönlichkeiten nur Yoongi und außerdem ist es auch was anderes, was das ganze ziemlich offensichtlich für mich macht, nämlich die Geschichte von Yoongis Geburtstag, die Jungkook mir erzählt hat.

Damals hat er sich, genau sowie jetzt, in der Garage auf einen Stuhl gestellt, mit einem Strick um seinen Hals, der an den Haken in der Decke befestigt war. Er war bereit zu sterben, zum ersten mal hat er keinen rückzieher gemacht, aber das Leben wollte ihn nicht gehen lassen. Der Sprung vom Stuhl war nicht genug um ihm das Genick zu brechen und noch während die Schlinge dabei war ihm den Hals zusammenzuschnüren, ist es gerissen.

Er war zum ersten mal, nach all den malen, die er es versucht und doch nicht gekonnt hat, bereit zu sterben, aber er lebt noch und jetzt steht er hier, in derselben Situation mit der Schlinge um den Hals an den Haken an der Decke befestigt auf einem Stuhl, bereit seinem und dem Leben von den anderen fünf ein Ende zu setzen.

"Yoongi", sage ich sanft zu ihm und trete langsam einen Schritt näher. Ich habe Angst, Angst das er springen könnte, weil ich es zu eilig habe ihn da herunter zu holen und Angst, dass ich es dann nicht rechtzeitig schaffe ihn da tatsächlich herunter zu holen.

Er sieht mich aus seinen farblosen Augen an, dreht sich aber nur kurz darauf wieder um. Ich würde seinem Blick gerne folgen, sehen was da interessant genug ist um ihn vergessen zu lassen, weswegen er eigentlich hier ist, aber ich wage es nicht irgendetwas anderes anzusehen als ihn. Ich habe Angst das er es tun wird sobald ich ihn aus den Augen lasse und das kann ich nicht riskieren.

"Yoongi-"

"Hör auf, lass es einfach sein." Er schüttelt den Kopf während er noch immer an die Wand starrt, als würde er dort irgendetwas unglaublich faszinierendes sehen. "Du brauchst nicht zu versuchen mich umzustimmen oder mich von etwas abzuhalten, das ich sowieso nicht tun werde. Ich kann mich nicht überwinden, schon wieder nicht."

Seine Worte verschaffen mir Erleichterung und obwohl die Angst beim bloßen Anblick von ihm mit dem Strick um den Hals immer noch da ist, spüre ich eine woge der Freude, die mich durchflutet. Er ist zwar sichtlich traurig darüber, in seiner Stimme schwingt sogar Enttäuschung über sich selber mit, aber so sehr er mir auch leid tut, so sehr er sich auch nach dem Tod verzehrt, ich kann das nicht zulassen.

Vorsichtig, trotz seines Geständnisses, trete ich einen Schritten nach vorne und Folge seinem Blick zu der Stelle an der Wand, die er die ganze Zeit anstarrt als würde er darin noch immer nach dem Mut suchen, der ihn dazu bringen würde es zu tun. Tatsächlich stelle ich fest, dass es nicht wie ich dachte die Wand ist, die er so bewundert und auf der er seine Gedanken im Kopf ausbreitet, sondern ein Schmetterling.

Yoongi bemerkt den verwirrten Ausdruck in meinem Gesicht und seufzt darüber. "Du verstehst es nicht, nicht wahr? Warum ich ihn anstarre als würde ich mit ihm tauschen wollen."

"Erklär es mir", ist alles was ich dazu sage und mich wieder ihm zuwende. Yoongi ist die wohl komplizierteste Persönlichkeit von allen für mich. Er ist nicht nur das Verlangen zu sterben, er ist viel mehr als das, denn obwohl es sein größter Wunsch ist diese Welt zu verlassen, bleibt er. Einerseits aus Angst vor dem Tod, der seinem Wunsch widerspricht und andererseits weil er nicht nur sich in den Tod reißen würde, sondern auch die Person, die er liebt. Wenn ich ihn verstehen möchte, muss ich erst einmal verstehen was ihn in dieser Welt so kaputt gemacht hat.

Ohne mich anzusehen, den Blick immer noch auf den Schmetterling gerichtet, der auf der weißen Bettonwand der Garage aussieht wie ein Farbklecks, fängt er an zu sprechen. "Die Menschen lieben Schmetterlinge. Sie lieben die Farben ihrer Flügel, die Eleganz, mit der sie sich fortbewegen und die Freiheit, die sie alleine mit dem Schlagen ihrer Flügel vermitteln. Aber vor allem lieben sie die Verwandlung, die dieses Tier hinter sich hat. Sie lieben die Vorstellung, wie eine unauffällige und hässliche Raupe sich aus eigener Kraft zu etwas so wundervollem wie einem Schmetterling verwandeln kann. Weißt du, was sie dabei allerdings vergessen?"

Er macht eine Pause, als würde er tatsächlich eine Antwort von mir erwarten, aber ich schüttle nur den Kopf. "Sie vergessen, dass Schmetterlinge nicht immer diese schönen, bunten Wesen sind, dass es auch sie, wie uns Menschen, in verschiedenen Variationen gibt. Sie vergessen, dass die grauen Nachtfalter, die Motten, die sie töten ohne sich darüber Gedanken zu machen, nur weil sie in ihren Augen hässlich sind, auch zu den Schmetterlingen gehören."

Zum ersten mal nach einer gefühlten Ewigkeit sieht er mich an. Er weint nicht, seine Augen sind nicht einmal mit Tränen gefüllt und trotzdem erkennt man all die Trauer und den Schmerz, den er gerade empfindet. "So fühle ich mich. Ich fühle mich wie eine Motte, in einer Welt, in der nur die Schmetterlinge überleben können."

Für mich schien Yoongi bei unseren letzten beiden Treffen immer wie jemand, der sich viele Gedanken über etwas macht, aber ich hätte niemals mit so etwas gerechnet. Ich denke, dass jeder, der seinem Leben ein Ende setzen will, über dieses nachdenkt. Niemand geht ohne einen Grund, sie alle denken dass das Leid, das sie empfinden, mit dem Tod ein Ende findet wird und wer weiß, vielleicht tut es das auch, aber ich hätte trotzdem nicht damit gerechnet das ein paar Worte von ihm mich selber so treffen und zum nachdenken bringen könnten.

"Ich kann mir nicht vorstellen was du empfinden musst", sage ich und trete noch näher an ihn heran. "Aber so leid es mir auch tut, ich kann nicht zulassen das Jungkook etwas zustößt. Ich werde ihn beschützen und genauso werde ich auch dich beschützen, denn du bist ein Teil von ihm."

Über Selbstmord hat jeder eine andere Meinung. Manche Menschen halten es für Feige, sind der Meinung das man damit vor seinen Problemen davonläuft und andere wiederum haben Mitleid mit den Menschen die diesen Weg wählen, sie haben Mitgefühl. Für mich ist es weder das eine noch das andere, es ist für mich eine Art zu sterben, wie jede andere auch, nur das sie selber gewählt wurde und ich bin der Meinung, dass es nichts bringt jemanden davon abzuhalten. Es ist seine Entscheidung, die er trifft und ich habe kein Recht da mitzureden, so dachte ich zumindest bis jetzt immer, denn dieses mal muss ich mir leider selber widersprechen. Ich werde Yoongi das nicht tun lassen, selbst wenn er irgendwann dazu bereit ist.

Aber ich brauche ihn gar nicht aufhalten oder lange auf ihn einreden, denn er nickt als Zeichen dafür das er mich verstanden hat. "Du bist ein Volltrottel, keine Ahnung wie Jungkook dich ertragen kann", sagt er, aber ich lache nur darüber, wissend das er es nicht ernst meint.

Er sieht zu dem Haken nach oben und lockert langsam den Strick um seinen Hals, ein Zeichen dafür das er es wirklich nicht tun wird, aber da passiert etwas, was mich beinahe die Hälfte meiner Lebenszeit kostet, so sehr erschreckt es mich. Mit dem linken Fuß tritt er zu nah an den Rand des Stuhles, sodass dieser nach vorne kippt und unter ihm wegrutscht.

Seine Augen weiten sich vor Schreck, mit seinen Händen versucht er sich noch oben am Strick festzuhalten, rutscht aber ab und fällt ins nichts. Ich reagiere etwas zögernd, denn das ganze passiert viel zu schnell als das ich es sofort realisieren könnte, aber als ich es zwei Sekunden später tue, laufe ich sofort los.

Statt sich zu winden und zu kämpfen, weil der Hals ihm gerade zugeschnürt wird, hängt er regungslos herum, regungslos und vollkommen leblos wir eine Leiche. Ich schließe meine Arme um seine Beine und hebe ihn an, sodass der Strick ihm die Luft nicht mehr abschnürt. Langsam und unglaublich vorsichtig hebe ich ihn aus der Schlaufe heraus und lege ihn auf den Boden.

Die Tränen haben bereits meine Augen verlassen als ich den Zeige- und Mittelfinger an seinen Hals führe und fast erleichtert aufschreie als ich den Puls spüre. Er lebt, er ist bewusstlos, was wahrscheinlich daran liegt das gleich eine andere Persönlichkeit an den Vorschein treten wird, aber er lebt.

Faces |Vkook|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt