Kapitel 10

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Gestern hatte ich noch kurz mit Kenny und Ryan geschrieben. Ich war froh, dass ich die beiden hatte. Wenigstens etwas aus meiner Vergangenheit habe ich wiedergefunden. Auch wenn ich mich immer noch nicht an eine Sekunde erinnern kann, habe ich das Gefühl wieder einen großen Teil zurückbekommen zu haben. Vielleicht kommt ja etwas zurück, wenn sie mir Geschichten von früher erzählen oder mir Bilder zeigen. Die Ärzte meinten zumindest, dass eine Chance besteht. 25% sind zwar nicht viel, aber immerhin mehr wie absolut nichts! Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt und ich hatte bis jetzt nie so viel Hoffnung, wie gerade in diesem Moment. Aber die beiden sind nicht für mich nicht nur die Tür zu mir, sondern sehr viel mehr. Beide waren richtig nett und wir schreiben fast so, als würden wir uns ewig kennen. Das tun wir ja anscheinend auch irgendwie. Ich habe von Ryan erfahren, dass er für mich wie ein Bruder war und dass wir auch viel Zeit gemeinsam verbrachten. Genauso auch mit Kenny. Ich habe beiden - laut ihren Erzählungen - so gut wie alles erzählt. Natürlich interessiert mich dieses alles brennend. Sie wussten demnach eigentlich alles von meinem Leben. Wahrscheinlich auch jedes kleinste Detail. Doch ich fand es an dem Abend noch sehr unangebracht, wenn es nur um mich und mein Leben geht. Es gab von beiden Seiten einiges zu erzählen. Ich genoss es einfach mit ihnen zu schreiben. Es war fast, als würde ich irgendwie nach Hause kommen. Es fühlte sich sofort vertraut an. Zuerst musste ich alles noch einmal erklären und sie stellten mir gefühlt 1000 Fragen, aber später schrieb ich mit beiden über einfache Dinge wie Schule, Freizeit und natürlich mit Kenny auch über Jungs. Sie war verliebt. Sie meinte, dass sie überwiegend mit mir dieses Thema besprochen hat und dass sie einfach nur froh war, endlich alles über ihren Schwarm zu erzählen. Das ehrte mich natürlich. Vor allem musste diese Situation sehr verwirrend und komisch für sie sein. Ich bin ja schließlich plötzlich weg gewesen, ohne Bescheid zu sagen und ohne für sie erkennbaren Grund. Dass sie mir jetzt schon so private und intime Geschichten erzählt, finde ich sehr stark von ihr. Ich musste auch von den Jungs an meiner Schule erzählen. Es fiel mir im Vergleich zu Kenny schwer mich ganz zu öffnen, aber mit der Zeit wurde es dann leichter. Vielleicht ist es so, weil sie ja für mich eine Fremde ist und ich für sie ihre wiedergekehrte beste Freundin. Da ich kaum Jungs kannte, ging mein ganzer Bericht eigentlich nur über Felix und Max. Sie interessierte sich hauptsächlich für Felix. Sofort dachte Kenny, dass mit ihm etwas läuft. Aber das lehnte ich schnell ab. Vielleicht zu schnell und zu vehement. Ich kannte ihn ja gar nicht! Felix war für mich bis jetzt wirklich nur ein Freund. Mehr nicht. Mehr will ich auch nicht. Und Felix sicher auch nicht. Allgemein würde ich sagen, dass das typische Mädchengespräche waren. Der Chat mit Ryan sah dagegen ganz anders aus. Wir wurden nicht ganz so persönlich, aber trotzdem mochte ich auch ihn sofort und es tat mir so leid ihn verletzt zu haben. Er gab es zwar nicht zu, aber man konnte es eindeutig zwischen den Zeilen herauslesen. Ich kann ihn ja verstehen. Er war klang total wie eine treue Seele, mit der man jeden scheiß machen kann. Man konnte einfach nicht anders, als ihn sofort in sein Herz zu schließen. Irgendwann hatte Ryan einen gewissen Lucas erwähnt. Wer war das denn schon wieder? Er hatte nichts Weiteres über ihn gesagt. Später würde ich mal nachfragen, denn jetzt war mir dieser Lucas nicht so wichtig. Ich war froh, dass sie von dem Unfall wussten. Wenigstens vor ihnen musste ich das nicht geheim halten. Eigentlich musste ich es ja vor keinem, es war mir aber trotzdem sehr unangenehm. Außerdem hat jeder so seine Geheimnisse. Das ist doch ganz natürlich.

Jetzt saß ich gerade im Sozialkunde Unterricht. Zuerst kam unsere Lehrerin direkt mal 5 Minuten zu spät. Ich hatte zwar nichts dagegen, aber dann hielt sie uns einen 10-minütigen Vortrag, wie dumm das ist, dass Sozi nur einstündig ist, die Klausuren gemeinsam mit Geschichte geschrieben werden, und so weiter. Irgendwie sehr kompliziert. Ich verstand sie zwar, aber dann sollte man auch nicht zu spät kommen und die Zeit nicht mit solchen Vorträgen verschwenden. Irgendwann fing sie dann an über den Demographischen Wandel zu reden. Immerhin war das die fünfte Stunde und danach hatte ich nur noch Klavier. Ich musste zwar noch in die Stadt und paar Sachen für die Schule kaufen, aber lang wird das nicht dauern. Ich freue mich jetzt schon, wenn ich mich dann zu Hause in mein Bett fallen lassen kann und zu entspannen. Obwohl ich mich heute kaum angestrengt habe, war ich komplett fertig. Das liegt vielleicht daran, dass ich einfach viel zu lange mit Kenny und Ryan geschrieben habe - ich glaube es war nach Mitternacht, als ich mein Handy weggelegt hatte - und in der Nacht nur schlecht geschlafen habe. In Musik saß ich heute neben Olivia, sie war so nett. Ich hab erfahren, dass sie auch neu in der Jahrgangsstufe ist, weil sie ein Jahr in Neuseeland war. Das war bestimmt eine einzigartige Erfahrung am anderen Ende der Welt ohne Familie für ein Jahr zu leben. Wir haben die ganzen zwei Stunden nur durchgeredet und das ohne auch nur ein einziges Mal ermahnt zu werden. Hauptsächlich hat sie zwar geredet, aber das machte mir nichts aus. Ich sollte eindeutig meine Einstellung zum Unterricht ändern, denn so werde ich sicher nicht nächstes Jahr nicht mein Abitur schaffen. Olivia und ich hatten sogar noch einige andere Kurse zusammen. Zum Beispiel Sozi. Sie sitzt jetzt sogar wieder neben mir. „Die Ferien waren eindeutig sechs Wochen zu kurz", jammerte Olivia jetzt bestimmt schon zum 10. Mal an diesem Tag innerhalb von nur 3 Schulstunden. Dabei nicht zu nerven ist schon echt eine Leistung. Respekt. Aber wo sie Recht hat, hat sie nun mal Recht.

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