Kapitel 16

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Ich konnte es nicht fassen: Lucas Kane war mein Freund. Ich musste ihre Worte oft wiederholen, um diese auch nur annähernd zu verstehen. Lucas Kane war mein Freund. Wir haben uns geliebt. Kendall meinte wir gehörten zusammen und hätten uns perfekt ergänzt. Anscheinend haben wir oft was zusammen mit ihr unternommen. „So glücklich wie mit ihm hatte ich dich davor schon lang nicht mehr gesehen." Dieser Satz ließ mich aufhorchen. Auf was spielte sie an? Auf die Trauer um meinen Vater? Ich hackte da nicht weiter nach, um ihren Redeschwall nicht zu unterbrechen. Irgendwann werde ich danach fragen. Aber jetzt geht es um Lucas. Wir waren zwar erst ein paar Monate zusammen, aber trotzdem war es nahezu perfekt. Doch dann kam er Unfall und weg war ich. Ich will mir gar nicht vorstellen wie das für Lucas sein musste. Die Person, die man über alles liebt, verschwindet mit ihrer Mutter und niemand weiß wo sie ist. Es hört sich an wie ein schlechter Liebesfilm, doch das ist die Realität. Und ich wusste nichts davon. Warum hatte meine Mutter niemandem etwas über den Unfall erzählt? Ich verstehe es einfach nicht. Laut Kendall war Lucas jedoch ein absolutes ‚asshole'... Da konnte ich ihr auf jeden Fall zustimmen. Denn er ist jetzt in einer neuen Beziehung, die bereits länger als zwei Monate dauert. Ich konnte es nicht fassen... Er hatte einfach zwei Freundinnen gleichzeitig. Bestimmt hat er ihr die gleiche perfekte Beziehung vorgespielt. Oder war es bei ihr echt und nur bei mir gespielt? Oder andersrum? Obwohl ich ihn nicht kenne, verletzte es mich. Obwohl ich sie nicht kenne, hasste ich sie. Ich habe mir im Ernst schon Gedanken darüber gemacht wie scheiße es ihm geht wegen mir. Ich hatte schon Mitleid und ein schlechtes Gewissen. Wahrscheinlich war er sogar froh, dass ich weg war. So hatte sich sein Problem ja dann von selbst gelöst. Arschloch. Das war ein scheiß Gefühl. Einfach ersetzt zu werden, von jemanden, von dem man dachte er würde einen lieben... Und trotzdem ließ mich das schlechte Gewissen nicht los.

Das Ganze hatte mich geschockt, als Kendall es mir vor einer Stunde gesagt hat. Es schockte mich immer noch, aber da war jetzt noch was anderes... Wut. Nicht auf Kendall, nicht auf Lucas oder sonst irgendjemand. Sondern komischerweise auf mich. Ich war wütend, weil ich mich nicht erinnern kann. Weil ich alles vergessen habe. Weil ich ein neues Leben angefangen habe ohne mir ernsthafte Gedanken über mein altes gemacht zu haben. Weil ich viele Menschen verletzt hatte und in Zukunft deswegen verletzen werde. Weil ich einfach nicht weiß wer diese Samantha Walker wirklich ist. Immer wieder höre ich etwas über mich und ich erkenne mich nicht wieder. Es ist als würden sie über jemand anderes reden. Jemand der nicht mehr existiert. Ich warf meine Kissen gegen die Wand, meine Lektüre flog gegen meinen Kleiderschrank und mein Handy landete zum Glück im vollen Wäschekorb. Ich konnte meine Wut nicht mehr zurückhalten. Es hätte mich nicht gewundert hätte ich dazu noch irgendetwas geschrien. Vielleicht hatte ich das ja auch. Ich konnte nicht sagen, ob nur meine Gedanken schrien oder ob ich es laut aussprach. Doch noch während ich nach dem nächsten Gegenstand tastete, sank ich in mir zusammen und Tränen liefen mir über mein Gesicht. Aus meiner Wut wurde plötzlich Trauer. Trauer die wirklich weh tat. Mein ganzer Körper zog sich gefühlt zusammen und ich spürte mehrere Stiche in meiner Brust. Wie konnte man etwas so sehr vermissen, an das man sich nicht erinnern konnte? Wie kann man die Leute vermissen, an die man keine Erinnerung hat. Sogar Lucas, dieses Arschloch, vermisste ich. Ich wollte nichts anderes als endlich wenigstens eine Erinnerung wieder zu haben. Eine würde mir schon reichen. Eine einzige. Eine klitzekleine. Die Ärzte sagten mir, dass ich eine Wahrscheinlichkeit von 25 % habe mich wieder an alles zu erinnern. Wie hoch war dann die Wahrscheinlichkeit für eine Erinnerung? Ich gebe auf. Sie werden nie zurückkommen. „Je länger die Erinnerungen ausbleiben, desto unwahrscheinlicher wird es, dass Sie sie wiedererhalten. Bei der Hälfte der vergleichbaren Fälle konnte wenigstens ein Teil der Erinnerung reproduziert werden. Es bleibt nichts weiter als abzuwarten. Ich wünsche Ihnen alles Gute, Miss Walker." An diese Aussage meines Arztes erinnere ich mich noch genau. Diese Kälte in seiner Stimme machte mir immer noch eine Gänsehaut. Aber das war nicht der einzige Grund. Ich schaffte es irgendwie aufzustehen und mich neben den Wäschekorb zu setzen. Ein Blick auf mein Handy verriet mir, dass heute der 18. September war. Der Unfall war schon vor über einen Monat. Es war der 16. August. Dieses Datum werde ich nie vergessen können. Der Tag an dem ein Teil von mir in den Flammen starb. Panik überkam mich. Es ist einen verdammten Monat her! Ein Monat ohne Erinnerung. Je länger eine Erinnerung ausbleibt, desto unwahrscheinlicher... Ich wiederholte diesen Satz einige Male. Es fühlte sich fast an wie ein Echo, dem man nicht entkommen konnte. Ein Monat war eine Ewigkeit für mich. Ein fucking Monat! Seit einem Monat war es da. Mein ständiger Begleiter. Das Nichts. Die Leere. Die Sehnsucht. ‚Ich werde mich nie wieder an etwas erinnern! Nie!', schoss es mir durch den Kopf und meine Augen füllten sich mit Tränen. Gleichzeitig breitete sich Panik in mir aus. Panik und Angst. „Ich werde mich nie wieder an etwas erinnern..." Ich wiederholte diesen Satz flüsternd, es war fast schon wie ein Mantra. Mit jedem Mal wurde mir bewusster, was es bedeutet. Ich hatte mir bis jetzt nie Gedanken darüber gemacht, was wäre, wenn die Erinnerungen nicht wiederkommen würden. Ich hatte immer die Hoffnung und den Glauben, dass alles wieder gut werden würde. Doch das Leben hatte nun mal nicht immer ein Happy End. Das Nichts würde für immer bleiben. Sicher wird es mit der Zeit immer kleiner werden, aber es wird immer da sein. Es wird ein Teil von mir bleiben. Ich werde nie von meiner Kindheit erzählen können, nur die Geschichten, die mir erzählt werden. Ich werde nie wissen wer ich war. Die Erinnerungen an meinen Vater werden immer vergessen bleiben. Ich werde jedem von meiner Amnesie erzählen müssen. Jedem, der mir wichtig ist. Ich kann es nicht mehr verbergen. Ich fürchte mich vor diesem Augenblick. Das Mitleid in ihren Blicken. Die Enttäuschung, weil ich es ihnen so lange verheimlicht habe. Ich könnte meine neuen Freunde dadurch verlieren. Olivia, Felix, Max... Ich würde es ihnen nicht einmal übelnehmen können. Ich würde es verstehen. Auch wenn sie mich nicht einfach so stehen lassen sollten, es wäre auf jeden Fall anders zwischen uns. Auch das Verhältnis mit meinen alten Freunden wurde dadurch so gut wie zerstört. Das war das erste Mal, dass ich etwas Positives an den Umzug finden konnte. Hier wurde ich nicht ständig mit meiner Vergangenheit konfrontiert. Aber hier konnte mir auch niemand sagen wie ich war.

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