Kapitel 9

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Die ersten Vögel hatten bereits ihr Lied angestimmt, als die Sonne ihre Strahlen über die Lichtung warf. Der Duft von feuchtem Moos und Blättern kitzelte Silberherz in der Nase. Murrend schlug er ein Auge auf und bemerkte sogleich, dass er nicht zu Hause war. Gähnend reckte er den Hals in die Höhe, musste dabei jedoch feststellen, dass seine Glieder steif wie trockene Äste waren. Was war nur passiert? Er konnte sich an nichts erinnern.

„Timidus! Er ist aufgewacht!", quiekte eine freudige Stimme hinter ihm. Silberherz erkannte die Stimme von Snow. Etwas ungelenk wandte er den Kopf zu seiner Freundin herum, die direkt hinter ihm lag, um ihm den Rücken zu wärmen. Dankbar lächelte er, woraufhin Snows Augen freudig zu leuchten begannen.

„Es geht dir gut!", wieherte Snow und riebe ihren Kopf ungestüm und voller Freude an Silberherz Hals.

„Schon gut, schon gut!", brummte er, sich aus der überschwänglichen Umarmung zu befreien suchend. Es war ja schön, dass sie sich für ihn freute, aber warum mussten Mädchen damit immer so übertreiben?

„Ah!", schnaubte Timidus mit vollem Maul. Er trug ein Päckchen Kräuter bei sich und kam langsamen Schrittes näher, „Wurde auch langsam Zeit. Jedes Murmeltier hat einen kürzeren Winterschlaf als du."

Silberherz verstand nicht recht. Er erinnerte sich an nichts. Warum war er bei Timidus und warum taten ihm alle Knochen im Leibe weh?

„Was ist geschehen?", schnaubte er leise. Sein Hals fühlte sich trocken und kratzig an, als habe er lange nicht gesprochen.

„Du hast Silver Proud das Leben gerettet!", japste Snow sofort, ohne Timidus zu Wort kommen zu lassen, „Da war ein Feuer spuckendes Lava-Steinpferd aus Feuer und Asche und es wollte Silver töten, aber dann hast du es aufgehalten! Du warst so tapfer, Silberherz!"

„Fantasiert sie wieder?", fragte Silberherz Timidus, ignorierte dabei allerdings Snows beleidigtes Schnauben neben sich. Timidus jedoch schüttelte nur den Kopf. Seine Züge waren steinern. Er legte das Päckchen, das er im Maul trug vor sich auf die Erde, bevor er ein unheimliches Geräusch von sich gab, das weniger wie ein Schnauben, sondern eher wie ein Fiepen klang.

„Ich fürchte nicht. Du hast dem Gorgyn die Stirn geboten, mein Kleiner", brummte Timidus voller Achtung und zauste Silberherz durch den Schopf, „Nicht viele Pferde haben dieses Wesen seit jeher zu Gesicht bekommen und die meisten, die ihn sahen – nun ja – sie kehrten nicht zurück."

Ganz plötzlich kehrten die Erinnerungen zu Silberherz zurück. Sie trafen ihn wie ein Stein in die Magengrube. Feuer loderte vor seinen Augen und inmitten der lodernden Glut erhob sich eine pechschwarze Gestalt mit einer Mähne aus Feuer und riesigen, glühenden Augenhöhlen. Sie riss ihr glutleuchtendes Maul auf und spie Feuer. Silver Proud lag am Boden und konnte sich vor Schreck nicht bewegen.

Silberherz erinnerte sich nur noch daran, wie er in den Feuerstrahl sprang. Danach verliefen sich seine Erinnerungen in Sand und Asche. Blinzelnd schüttelte er sich seine Erinnerungen aus dem Kopf.

„Woher weißt du das alles?", fragte Silberherz skeptisch. Er merkte, wie Snow hinter ihm zu zittern begonnen hatte. Timidus schnaubte nur lächelnd.

„Das erzähle ich dir ein andermal. Die hier solltest du jetzt essen, damit du wieder zu Kräften kommst."

Behutsam schob Timidus das Kräuterpaket zu Silberherz herüber, der die Kräuter mit angewiderter Miene hinunter würgte und dann versuchte, auf die Beine zu kommen. Snow gab ihm Aufstehhilfe, wofür er ihr insgeheim sehr dankbar war.

Kurz darauf stand Silberherz schon wieder wackelig auf seinen dürren Jährlingsbeinchen und trank genüsslich aus einem umgedrehten Schildkrötenpanzer, in dem Timidus ihm frisches Wasser vom Fluss geholt hatte. Das kühle Wasser war Balsam für seine trockene Kehle und brachte seinen dröhnenden Kopf endlich zum Schweigen.

Silver Heart - Die Legende des silbernen HengstesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt