S E C O N D

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all falls down - alan walker, noah cyrus & digital farm animals

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January, 2nd friday 01.14PM

Seit genau 14 Minuten warten wir jetzt schon.
Immer wieder schaut Mrs. Kalsey auf die Uhr. Ungeduldig seufze ich.

Während die Sekunden und Minuten an uns vorbeiziehen, betrachte ich meine Hände. Ich habe das Gefühl, dass sie sich verändert haben, nicht mehr so mager sind.
Kein Wunder, in der Klinik habe ich ja auch wieder an Gewicht zugenommen, dennoch geht es mir nicht gut. Nicht mehr. Und ob es besser wird, weiß ich nicht.

Plötzlich wird die Tür aufgestoßen und der junge Mann tritt ein.

„Schön, dass Sie uns auch noch mit Ihrer Anwesenheit beglücken.", mit strengem Blick mustert Mrs. Kalsey Jax, der die Augen verdreht und neben mir Platz nimmt.

Abwartend blickt die Therapeutin von der Uhr zu Jax und scheint auf etwas zu warten.
Verständnislos runzelt dieser die Stirn.
Als Mrs. Kalsey nicht antwortet, entfährt Jax ein gereiztes „Was?" und lässt mich erschrocken ein Stück von ihm abrücken.

Jax scheint dies gar nicht zu bemerken, er und Mrs. Kalsey liefern sich ein Blickduell. Irgendwann wendet Mrs. Kalsey den Blick ab und lächelt nur.

„Das heißt »wie bitte« junger Mann und ich warte auf eine Entschuldigung für Ihr Zuspätkommen."

Genervt fährt sich Jax über das Gesicht. Man merkt ihm an, dass er versucht nicht auszuflippen.
„Na? Was ist los? Haben Sie Ihre Zunge verschluckt oder warum antworten Sie mir nicht?"
Das lässt den Geduldsfaden von Jax reißen, denn er schlägt mit der Faust auf die Armlehne und knurrt die Pädagogin vor uns gefährlich an.
„Es gibt bestimmte Gründe für die Verspätung und Sie können sich Ihr »wie bitte« sonst wo hinschieben."

Ich bin mittlerweile aufgesprungen und habe mich nahe der Tür platziert. Mrs. Kalsey hat sich nicht vom Fleck gerührt und hebt beschwichtigend die Hände.
Mehr als verwirrt schweift mein Blick von Mrs. Kalsey zu Jax, der ebenfalls verwundert wirkt.

Allerdings traue ich mich nicht zu fragen, was los ist und warum sie das gemacht hat.

„Warum sind Sie aufgesprungen? Was hat Ihnen solche Angst gemacht?", auf einmal steht meine Therapeutin vor mir und schaut mich interessiert an.
Ich schlucke. „Wie meinen Sie das?"
„Was hat Ihnen an der Reaktion von Jax Angst gemacht?"

Unsicher blicke ich zu Jax, der wieder zur Ruhe gekommen ist, aber immer noch gereizt scheint. Ich sollte bloß nichts falsches sagen.

„Ich...ich weiß nicht so genau, also-"
„Was genau war es?", Mrs. Kalsey unterbricht mich forsch und schaut mich auffordernd an.

Meine Augen brennen, ich weiß, dass ich kurz davor stehe in Tränen auszubrechen. Dem Druck, der von der Therapeutin ausgeübt wird und dem stechendem Blick von Jax, kann ich nicht mehr lange standhalten, das weiß ich.
Meine Hände sind schweißnass und kalt, verzweifelt versuche ich sie an meiner Jeans abzutrocknen, doch es nützt nichts.

Ich schlucke. Und ich schlucke noch einmal. Der Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hat, will einfach nicht verschwinden.

Als ich den Mund öffne, kommt kein Ton raus, stattdessen nur ein Schluchzen. Erschrocken schlage ich die Hand vor den Mund. Meine Hand fängt an zu brennen und ich sehe, wie sich die heißen Tränen einen Weg über meinen Handrücken bahnen.

So habe ich mir das alles nicht vorgestellt. Diese Therapie sollte mir helfen und mich nicht noch mehr demütigen, als ich es schon bin.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren drehe ich mich um und laufe mit gesenktem Kopf aus dem Raum. Schnell packe ich meine Jacke und meine Tasche und möchte gerade die Tür der Praxis öffnen und verschwinden, als mich eine Hand auf meiner Schulter zurückhält.

Langsam drehe ich mich um. Die grünen Augen von Mrs. Kalsey bohren sich in meinen Blick. Stocksteif stehe ich da und warte auf das, was sie mir zu sagen hat.

„Hör zu, Mae. Es tut mir leid, ich wollte dich nicht so verängstigen. Du musst wissen, für mich ist das auch alles etwas ganz neues.", sie nimmt ihre Hand von meine Schulter und tritt einen Schritt zurück. „Du weißt, diese ganze Therapie ist ein Experiment der Wissenschaft, niemand weiß wie sie verlaufen wird. Aber eins möchte ich dir sagen: Ich möchte weder dir, noch Jax Schaden zufügen. Ich wollte nur, dass Jax lernt, seine Wut besser zu kontrollieren und dir die Chance geben, den Mut zu finden, zu sagen was du denkst und nicht immer nur auf die Meinung der anderen zu hören." Sie scheint um Jahre gealtert zu sein und ihr Blick scheint erschöpft und müde.
„Ich weiß, das ist etwas nach hinten losgegangen, aber so ist das nunmal. Nicht alles läuft immer sofort perfekt und wie am Schnürchen. Manchmal braucht es ein paar Anläufe, bis zum gewünschten Ergebnis. Mae, bitte, gib nicht gleich auf, versuch's nochmal, bis es irgendwann klappt, gib allem eine zweite Chance, aber hör nicht auf, bitte."

Ich brauche einen Moment die Worte zu verdauen, die sie mir grade ans Herz gelegt hat. Dennoch weiß ich nicht so recht was ich tun soll.

Aufmunternd und entschuldigend lächelt Mrs. Kalsey mich an. Ich versuche mir ein kleines Lächeln abzuringen, was ich auch halbwegs zustande bekomme und atme einmal tief durch.

Mein Blick schweift durch den großen Eingangsbereich, als plötzlich Jax aus dem Raum, in dem ich mich ein paar Minuten zuvor noch befand, tritt und seinen Blick auf mich heftet. Sein Blick ist leer, versteinert, als hätte er eine Maske aufgesetzt.
Seine blauen Augen erkenne ich bis hier.
Widerwillig schüttele ich meinen Kopf und wende mich meiner Therapeutin zu.

„Tut mir leid, aber ich muss jetzt leider gehen. Bis nächste Woche.", mit diesen Worten verabschiede ich mich und verlasse ohne mich noch einmal umzudrehen, die Praxis.

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Fixing usWo Geschichten leben. Entdecke jetzt