Tag 1 - Das Paket

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Es klingelt. Sven erhebt sich träge aus seinem Bett. Da war er doch tatsächlich ganz plötzlich eingeschlafen. Die Erschöpfung der letzten Tage war ihm diese paar Minuten Schlaf aber auch wirklich schuldig. Gerade jetzt, zur Beginn der Weihnachtszeit, musste er besonders viele Klausuren schreiben, Referate halten und Vorlesungen besuchen. Wer hatte ahnen können, dass das Leben als Student so mühselig sein würde. Langsam wühlt er sich aus seiner provisorisch bis zum Kopf gezogenen Decke.

Es klingelt wieder. Sven verheddert sich derweil in dem Stoffgewirr und fällt längs auf dem Boden. Kurz denkt er darüber nach, sein Nickerchen einfach auf den Dielen fortzusetzten, als ihn ein erneutes, energisches Klingeln aus dieser Phantasie reißt.

„Komme ja schon!", brüllt er etwas verschlafen den Flur entlang. Aufstehen, Haare richten, jetzt nur noch der Weg zur Haustüre. Und der hat es besonders in sich: Ganz nach Tradition eines alleinlebenden Jurastudenten ist er bedeckt mit fallen gelassenen Kleidungsstücken, Schals, Mützen und Schuhen. Einem Ninja gleich schlängelt sich Sven elegant durch dieses Gewirr von Klamotten und dem ein oder anderen Umzugskarton.

Es ist noch nicht allzu lange her, da lebte er noch bei seinen Eltern. Vor etwa einem Jahr dann das erfolgreich bestandene Abitur mit Auszeichnung und der Weg zum Nachwuchsanwalt war geebnet. Sven mochte sein Studium, die Stadt, die nun langsam seine Heimat wurde, ebenso wie all die neuen Freunde, die er kennen lernte. Doch gerade jetzt, zum Beginn der Weihnachtszeit, begann er doch seine Familie zu vermissen. Er stolperte an seinem Kalender vorbei. Der erste Dezember. All die Lernerei und der Stress des beginnenden Semesters hatten ihn vollkommen vergessen lassen, dass der Advent vor der Tür stand. Er war kein bisschen vorbereitet.

Geschafft. Sven legt seine Hand an den Türgriff und sieht gerade noch durch das Milchglasfenster, wie die Gestalt davor sich abwendet und geht. Er zieht an der Klinke und blickt heraus. Merkwürdig, seine Wohnung liegt im vierten Stock, doch selbst im Treppenhaus ist von der Person keine Spur. Als Sven sich wieder umdreht, um sich wieder einem Schläfchen zu widmen, stolpert er beinahe über ein Paket, das zu seinen Füßen liegt. Es ist braun, etwa kniehoch und mit einer dicken Paketschnur versehen. Er hebt es in die Luft, es geht sehr leicht, schüttelt es, hält sein Ohr daran, doch nichts.

Bei näherer Betrachtung kann er keinen Zettel finden, auf dem sonst Empfänger oder Sender nachzulesen sind. Verdutzt trägt er das Päckchen in seine Küche und stellt es auf den Tisch.

„Ich habe doch gar nichts bestellt", stellt er verwirrt fest. Nach kurzem Zögern öffnet er den Deckel der Schachtel, allerdings sehr vorsichtig, ohne das Band zu beschädigen.

In dem Karton befindet sich ein kleiner, beigebrauner Stoffteddybär. Sven hebt ihn aus der Box und begutachtet ihn. Ein hübsches Stofftier, ganz neuwertig, doch auch hier: kein Zettel, kein Schildchen mit Marke oder Firma, nicht einmal ein Knopf im Ohr.

„Was soll ich nur mit dir anstellen?" Nach kurzem Überlegen Steckt er den Teddy wieder in die Schachtel, zieht seinen Mantel und seine Handschuhe an, setzt seine Mütze auf und verlässt die Wohnung. Als er auf die Straße tritt, fallen dicke Flocken wie Watte vom Himmel. Ganz sacht schweben sie wie Federn zu Boden und bleiben dort in einer dünnen weißen Schneeschicht liegen.

Flink bewegt sich Sven, ähnlich wie durch die Stoffhindernisse in seinem Flur, durch das geschäftige Treiben, bis er vor einem großen Kaufhaus Halt macht. Davor steht ein kleines Mädchen mit dreckigen Kleidern und betrachtet mit großen Augen die Spielsachen im Schaufenster. Geraden Schrittes geht Sven zu der Kleinen hin, drückt ihr sacht das Paket in die Hand und sagt: „Hier Süße, das ist ein Geschenk."

Ganz erstaunt schaut ihn das Mädchen an, doch sie kann nicht einmal mehr Danke sagen, da ist er auch schon wieder verschwunden, durch die Türen des Ladens hinein. Er hat keine Zeit zu verlieren, denn Weihnachten steht vor der Tür.

„Das Lernen kann heute einmal warten, zuerst brauche ich nämlich einen Adventskalender."

Das Paket - Ein AdventskalenderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt