Alle schweigen. Ehrfurchtsvoll blicken alle Anwesenden zu Boden. Keiner bewegt sich. Man traut sich kaum zu atmen. Die Luft ist erfüllt von einer wabernden Gespanntheit. Der Schneefall lässt langsam nach, wird sanfter, der Himmel klart auf. Die unregelmäßigen Bewegungen der massigen Rentiere sorgen hin und wieder für ein leises Klirren und Scheppern der Schlittenglöckchen. Stapfend kommt der Weihnachtsmann in seinen schweren Stiefeln auf die versammelte Mannschaft zu. Das Weiß knirscht unter seinen tiefen Schritten. Seine rote Samthose schlackert unter jeder Bewegung. Ein kräftiger schwarzer Ledergürtel mit einem goldenen Verschluss hält sie an Ort und Stelle und stützt gleichzeitig den mit weißem Fell gesäumten ebenso roten Mantel, der den Oberkörper des Hünen bedeckt. Hier und da verbergen ein paar kleine Flicken das Alter des Anzugs. Die Ärmel sind abgenutzt und enden in einem klaren Saum. Dazu trägt der Mann leichte Lederhandschuhe und natürlich eine große rote Mütze mit einem fluffigen Bommel am Zipfel. Er ist nun so nahe, dass man sein verwettertes Gesicht erkennen kann. Aufgeplusterte glänzende Wangen, eine knollige Nase, stahlgraue ehrwürdige Augen, verdeckt von zwei runden Brillengläsern, die ehrlich und liebevoll, aber in diesem Moment auch sehr verständnislos und zornig blicken. Weiße Locken hängen über der faltigen Stirn, die Lippen sind rosig und voll, ein ebenso silbriger Bart umrahmt die Kinnpartie. Ein eindrucksvoller, aber auch ein gütiger Mann steht nun nicht einmal einen Meter von der Gruppe.
„Was im Namen des Nordpols hier los ist, will ich wissen", wiederholt der rotgekleidete Riese seine Frage energisch.
Gulliver schluckt betroffen. Langsam hebt er seinen Blick, besinnt sich kurz und erkennt dann, dass er sich nichts zu Schulden kommen lassen hat. Also antwortet er mutig:
„Wir sind hier in einem wichtigen Einsatz."
Weit kommt er nicht mit seiner Erklärung. Der Weihnachtsmann unterbricht ihn mit einem fragenden Blick.
„Einsatz? Welcher Einsatz? Die Spielzeugproduktion läuft auf Hochtouren, morgen ist Weihnachten, wir hängen mächtig hinterher und ich muss mir anhören, dass ihr wegen eines Außeneinsatzes die ganze Zeit den Dienst in der Fabrik vernachlässigt habt?" Vorwurfsvoll betrachtet er die kleinen Kerlchen.
„Aber es ist wichtig, Weihnachten hängt davon ab!", ruft Plötzlich Sammi dazwischen. Tapfer fokussiert er die Augen des Alten. Wenn diese Mission zu Ende ist, würde er ihn zu seinem Stellvertreter machen, beschließt Gulliver im Stillen mit sich selbst.
„Was höre ich da? Weihnachten ist in Gefahr?" Der Weihnachtsmann schüttelt verdutzt den Kopf.
„Richtig, Chef!", steigt der Elfengeneral schnell wieder in das Gespräch ein, „Es handelt sich um einen Fall von Geschenkschwund. Noch nie in der Geschichte des Festes hatten wir mit einem derartigen Problem zu tun."
Immer ungläubiger schaut der bärtige Mann in das Gesicht des Elfs, bis der Zipfel seiner Mütze Gulliver so nah an der Anse hängt, dass dieser niesen muss.
„Wieso wusste ich denn von nichts?" Santa Clause ist ein wenig ärgerlich, vor allem aber schockiert.
„Wir sind sehr überstürzt aufgebrochen, nachdem wir diese Information erhalten haben. Ich hielt es für das beste, der Sache sofort auf den Grund zu gehen."
Der Weihnachtsmann atmet ruhig ein und aus und starrt dabei vor sich hin. Er kann weiß nicht mehr, was er sagen soll, als sein Blick auf das kleine Mädchen fällt. Aber nicht Lena erweckt seine Aufmerksamkeit, sondern das, was sie in der Hand hält. Langsam geht er auf sie zu. Sie macht ganz große Augen, bleibt aber besonnen. Als er vor ihr steht, kann sie nicht anders und fasst seinen Mantel an. Einen kurzen Moment zögert sie, dann beginnt die Kleine zu lächeln. Ganz still und glücklich steht sie da. Auch aus dem Gesicht des Weihnachtsmannes ist alle Verärgerung und Sorge verschwunden. Vorsichtig greift er nach der Hand des Mädchens und nimmt ihr Denn Teddybären ab. Sie lässt es geschehen, sie weiß, was es bedeutet. Er hält sich das Stofftier vor die ovalen Brillengläser und erhebt dann die Stimme:
„Hört mir alle zu! Elfen, euch trifft keine Schuld. Ihr habt richtig gehandelt, wenn euer Anführer auch ein wenig überstürzt reagiert hat." Gulliver senkt beschämt den Kopf. Der Mann lächelt ihm zu: „schon in Ordnung, Gulliver."
„Es handelt sich hier um ein großes Missverständnis, an dem ich nicht minder Schuld trage. Doch lasst mich von vorne beginnen: Das Geschenk, von dem ihr dachtet es wäre verlorenen gegangen, gehörte zu keinem Kind. Dieser Teddy", er hebt ihn in die Höhe, „war für genau die Kleine hier bestimmt! Hier, Lena." Er reicht ihr den Bären, der sofort eine Knuddelkur erhält. Santa fährt fort:
„Das wusste ich damals aber selbst noch nicht. Das Paket, nach dem ihr so fleißig gesucht habt und von dem ihr dachtet, sein Verschwinden würde das Weihnachtsfest ruinieren – denn schließlich hat bisher immer ausnahmslos jedes Kind ein Geschenk von mir erhalten – habe ich selbst in die Welt hinausgesandt. Es hatte keinen Adressaten. Es war ein Geschenk für alle."
Die Elfen sind fassungslos. Ihre ganze Arbeit wurde gerade in wenigen Worten für sinnlos erklärt. Sie sind ein wenig gekränkt, doch erst einmal hören sie weiter gespannt zu.
„Die Magie dieses Paketes sollte darin bestehen, allen Menschen, zu denen es kommen würde, Glück zu bescheren. Gerade heutzutage wird die Weihnachtszeit allzu oft vergessen. Ich wollte der Welt schlichtweg ein wenig Freude in diesen Tagen senden. Allen von ihnen. Das Päckchen hat selbst entschieden, wohin es kommt. Ich muss mich allerdings entschuldigen. Euch in den Glauben zu lassen, Weihnachten stünde auf dem Spiel, war falsch. Doch ich wusste ja von nichts."
Der Weihnachtsmann verstummt. Auch die Elfen sind ganz still. Eine knisternde Atmosphäre liegt über dem Land. Alle tragen viele Fragen und Gefühle in sich, doch keiner traut sich, etwas zu sagen. Die Verwirrung ist groß. Ein Geschenk für alle? Das hatte es noch nie gegeben. Plötzlich erhebt Gulliver wie aus dem Nichts die Stimme und stellt nur eine simple Frage: „Hat es funktioniert?"
Der rote Mann grinst ein wenig schelmisch, dann sagt er: „Na, das können wir nun gemeinsam herausfinden."
Er steigt flink auf seinen Schlitten und weist die Elfen an, neben sich Platz zu nehmen. Dann schnalzt er mit den Zügeln und das hölzerne Flugobjekt schwingt sich in die Lüfte. Man winkt noch der etwas verwirrten, aber fröhlichen Lena und macht sich dann auf den Weg, die Wirkung des mysteriösen Geschenkes zu erschließen.
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Das Paket - Ein Adventskalender
General FictionEndlich ist es soweit! Stolz präsentiere ich euch hier meinen Adventskalender, der in wochenlanger täglicher Arbeit seit Anfang November entstanden ist. Ich hoffe, er gefällt euch. *******************************************************************...