Seit einigen Stunden steckt Manfred nun schon fest. Die Wärme im Innenraum des Wagens ist längst verflogen. Mit sämtlichen Decken, Jacken, Schals, Mützen und sonstigen Stoffen versucht er, seinen Körper dennoch vor dem Erfrieren zu bewahren. Draußen immer noch alles weiß, doch die Schneemassen verteilen sich. Wo sie vorhin noch auf Höhe des Daches gelegen hatten, sind sie mittlerweile bis an die untere Kante der Seitenscheiben gesunken.
Manfred wagt einen neuen Versuch. Er kurbelt langsam das Fenster auf, behutsam, dass ja nichts von dem kalten Zeug in sein Auto rieselt. Als er das geschafft hat, beginnt er, sich durch die enge Öffnung zu zwängen. Das geht erst sehr gut, doch ab der Hüfte wird es schwer. Mit einer Menge Kraft und dem begünstigenden Umstand, dass seine Beine ohnehin fast taub und somit schmerzresistent sind, schafft er es aber doch. Endlich frei!
Tief atmet er die kühle Luft ein, klopft sich den Schnee von den Klamotten und betrachtet die ganze Misere. Sein Wagen steckt immer noch halb in einer Schneelawine verschüttet fest. Er versucht zu schieben, buddelt an dem Berg herum, zieht an der Stoßstange. Doch es geschieht nichts. Manfred hat keine Wahl. Er muss Hilfe hole. Und da es hier keinen Empfang gibt, muss er das eben zu Fuß erledigen.
Also packt er sich so dick ein wie nur möglich, um ja nicht noch mehr zu unterkühlen, und beginnt, dem Straßenverlauf zu folgen. Nach einigen hundert Metern stößt er auf ein Schild. Die nächste Tankstelle liegt demzufolge etwa zwei Stunden zu Fuß. „Wo eine Tankstelle ist, gibt es auch Hilfe", denkt Manfred und stapft los.
Es ist bereits dunkel als er an dem schwach beleuchteten Häuschen des Rasthofes ankommt. Manfreds Glieder sind schon ganz blau vor Kälte. Seine tauben Finger umklammern den Griff der Glastüre und ziehen diese schwach nach außen auf. Im Inneren des Gebäudes ist es kuschelig warm. Die Hitze durchfährt seinen Körper wie ein wohliges Gefühl. Manfred hat gleich wieder mehr Kraft.
„Entschuldigung", fragt er vorsichtig und mit immer noch etwas betäubten Lippen.
„Mein Wagen ist im Schnee stecken geblieben. Kann ich hier irgendwo Hilfe bekommen?"
Sofort drehen sich einige Gesichter zu ihm. Die Frau hinter dem Tresen, sie ist etwa Anfang sechzig, hat graues Haar und sanfte blaue Augen, lässt vor Schreck fast ihre Teller fallen, als sie den einem Schneemann ähnelnden Kerl sieht.
„Junger Mann, setzen Sie sich, sie sehen ja furchtbar aus", sagt sie liebevoll, aber bestimmt.
Manfred setzt sich. Erleichterung durchfährt ihn.
„Haben Sie Hunger? Kann ich Ihnen etwas zu trinken oder zu essen anbieten? Geht aufs Haus."
„Danke, das ist wirklich nett." Manfred ist eigentlich ein höflicher Mensch, der ungern Almosen annimmt, aber diesem Angebot konnte er nicht Nein sagen.
Nachdem man also etwas gegessen und einen warmen Kaffee getrunken hat, wird Gittas Mann gerufen. Der soll mit seinem Pickup Truck den alten Chevy aus dem Schnee ziehen. Aber erst morgen, denn heute ist es schon zu dunkel. Manfred ist auch gern eingeladen, hier zu übernachten. Das alles hat ihm die nette Besitzerin des Tankstellenkiosks ermöglicht. Gitta ist eben einfach eine gute Seele.
Doch Manfred macht sich Sorgen. Er sollte doch längst zuhause sein. Auf die Frage, ob es hier denn ein Telefon gäbe, erfährt er, dass alle Leitungen tot seien. Der Schneesturm habe außerdem die Straßen im ganzen Umkreis so verwüstet, dass es nicht möglich war, von hier weg zu kommen. Man ist auf sich allein gestellt, solange, bis die Räumfahrzeuge sich einen Weg durch das Gewüst aus Ästen, Zäunen und dicken Schneeschichten gebahnt haben. Und das konnte dauern.
Für Manfred ist das eine Hiobsbotschaft. Nicht nur, dass er hier festsitzt, sondern vor allem die Tatsache, dass er nicht weiß, wann er zu seiner Familie kommt, ebenso wenig wie diese weiß, dass er festsitzt, macht ihn fertig. Als tags darauf sein Wagen geborgen ist, nimmt er erst einmal das Geschenk, dass er für seine Tochter auf dem Weg gekauft hatte, heraus. Er hat einen Plan.
Von Gitta hat er erfahren, dass es in der Nähe einen kleinen Flugplatz gibt, mit einem Piloten, der zu solchen Zeiten – Schneestürme traten hier wohl öfter auf – für den Transport von Gütern und auch Post zuständig ist. Flink schreibt er eine Notiz am seine Frau, einen kleinen Brief, in dem er seine Lage schildert, die Umstände bedauert, aber angibt, wenigstens das Geschenk für die Kleine beigelegt zu haben, damit sie an Weihnachten – für den Fall der Fälle – nicht auch darauf verzichten muss.
Im Fußraum seines Wagens entdeckt er den Karton, den der Anhalter wohl da vergessen hatte. Er ist leer. Kurzerhand packt Manfred also das Geschenk, das Briefchen und noch ein paar Plätzchen ein, die ihm Gitta mitgegeben hatte. „Für die Familie."
Dann eilt er zu dem Flugplatz, der sich als kahle Wiese mit einer Wellblechhütte und einem rostigen kleinen Postflugzeug entpuppt. Der Pilot scheint bereits ein wenig in die Jahre gekommen zu sein, aber immer noch besser als nichts. Als das Paket ausgehändigt ist, erhebt sich der eiserne Vogel schwermütig in die dicke Luft. Manfred steht unten und winkt. Jetzt kann er nur noch hoffen.
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Das Paket - Ein Adventskalender
Ficción GeneralEndlich ist es soweit! Stolz präsentiere ich euch hier meinen Adventskalender, der in wochenlanger täglicher Arbeit seit Anfang November entstanden ist. Ich hoffe, er gefällt euch. *******************************************************************...