Tag 10 - Per Anhalter

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Seit etwa einer halben Stunde läuft Alfred jetzt schon am Rand der Straße entlang, zerstampft den schwarzen Schnee mit seinen leichten Schuhen und hält Ausschau. Die Angst, ihm könnte jemand gefolgt sein, verdrängt er. Viel größer ist die Sorge, wie er denn nun aus dieser verdammten Einöde herauskommt. Außerdem friert er. Außer einem leichten Hemd und einer mitgenommenen Bluejeans trägt er nichts, weder Schal noch Mütze oder Handschuhe, um seinen Körper vor der Kälte zu schützen. Und die ist an diesem Morgen sehr präsent. Sicherlich etwas unter null Grad, doch für einen Mann, dessen Socken mehr Löcher als Stoff sind fühlen sich selbst solche vergleichsmäßig warmen Temperaturen eisig an.

Am Horizont nähert sich ein Wagen. Ein roter Chevy mit etwas Unförmigen auf dem Dach. Als das Auto näherkommt, erkennt Alfred, dass es sich dabei um einen Weihnachtsbaum handelt. Er streckt dem Fahrer demonstrativ den Daumen hin und zu seiner Überraschung hält der Wagen. Hinter dem Steuer sitzt ein Mann, etwa Mitte dreißig, mit einem freundlichen Blick und einer dicken auf dem Kopf.

„Na, steigen sie aber schnell ein, Sie sehen ja aus, als würden sie erfrieren", ruft er Alfred durch die geöffnete Scheibe zu.

„Haben Sie vielen Dank." Der Flüchtige legt das Paket mit den letzten Krümeln des Christstollens vor dem Beifahrersitz auf den Boden.

„Wo ist denn Ihr Mantel?", fragt der Fahrer verwundert.

„Den habe ich daheim vergessen", antwortet Alfred salopp.

Es folgt ein längeres Schweigen. Dem Mann hinter dem Lenkrad ist das merklich unangenehm, erbraucht wohl immer Geschehen. Unauffällig schaltet er das Radio ein und sucht einen Sender, bis schließlich die sanften Töne von Chris Rea's „Driving Home For Christmas" erklingen.

„Der Song ist gut", gibt er Alfred zu verstehen. „Und er passt zu meiner Tour."

Alfred sieht aus dem Fenster auf die verschneite Landschaft. Wird seine kleine gerade im kleinen Garten seines Hauses mit dem weißen Etwas spielen? Denkt sie manchmal an ihn? Wie wird sie wohl reagieren, wenn ihr Vater plötzlich nach Hause kommt? Was soll er ihr sagen? „Hallo, Schätzchen, ich bin wieder da. Papa ist aus dem Knast ausgebrochen um Weihnachten mit dir zu verbringen." Das kann er nicht tun.

„Wo wollen Sie eigentlich hin?", erkundigt sich der schmächtige Kerl neben ihm vorsichtig.

„Erstmal nur weg."

„Ja, aber dann. Irgendein Ziel müssen Sie ja haben."

„Nach Hause", sagt Alfred ohne seinen Gesprächspartner anzublicken. Seine Augen haben sich wieder in der Landschaft verfangen.

„Da will ich auch hin", sagt der Mann schnell, um ein erneutes Schweigen vorzubeugen.

„Interessant. Der Baum auf dem Dach?"

„Ja, den sollte ich auch gleich mitnehmen. Man muss die Geschenke ja auch irgendwo hinlegen." Er lacht. „Wissen Sie, ich bin beruflich viel auf Reisen und schon eine Weile unterwegs zu meiner Familie. Ich möchte sie an Weihnachten unbedingt sehen."

„Ja, ich auch." Alfreds Blick erstarrt.

„Haben Sie Kinder?"

„Eine Tochter."

Der Fahrer nickt.

„Wissen Sie was, lassen Sie mich hier raus." Stößt Alfred plötzlich hervor.

„Sind Sie sich sicher?" Der Mann ist verdutzt.

„Hören Sie, Sie sind ein unglaublich netter und aufgeschlossener Mann und Sie haben genug für mich getan. Ich möchte Sie und Ihre Familie nicht gefährden. Ich bin flüchtig. Vielleicht sind die hinter mir. Bevor ich gehe, habe ich nur noch eine Frage an Sie."

Der Mann nickt langsam und bedächtig, aber entschlossen.

„Warum tun Sie das für jemanden, den Sie kaum kennen. Ich hätte Sie umbringen und Ihr Auto stehlen können. Warum also vertrauen Sie mir?"

„Weil ich sehe, dass sie eine gute Seele haben. Sie lieben Ihrer Familie genau wie ich es tue. Und Sie wollen zu ihr. Wenn ich Ihnen dabei helfen konnte, dann haben Sie mich glückliche gemacht."

„Steigen Sie aus", befiehlt Alfred.

Der Fahrer öffnet irritiert die Tür und erhebt sich aus seinem Sitz. Vorsichtig dreht er sich zu dem Geflohenen um.

Alfred packt den Mann und umarmt ihn, ganz sachte und lange. Mit einer Träne im Augenwinkel lässt er ihn los.

„Leben Sie wohl", presst er zwischen den Lippen hervor. Dann verlässt er eilig die Pannenbucht, in der der Wagen hält, in Richtung eines kleinen Dorfes. Der Mann bleibt zurück, verwundert, aber glücklich. 

Das Paket - Ein AdventskalenderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt